Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnern sich

Das Vermächtnis der Charta 77

Die tschechoslowakische Charta 77 war eine der wichtigsten Dissidentenbewegungen im sowjetisch dominierten Europa. Nach 30 Jahren reflektieren nun Veteranen die eigene Geschichte. Zahlreiche "Chartisten" fühlen sich von den Ereignissen überrollt.

Pavel Kohout zur Geburtststunde der Charta 77

In diesen Wochen finden in Prag viele Veranstaltungen in Erinnerung an die Charta 77 statt, deren Aktivitäten letztendlich in die Wende des Jahres 1989 mündeten. Vor wenigen Tagen wurde in Prag auch des 30. Todestages des Philosophen Jan Patocka gedacht, der einer der ersten drei Sprecher der Charta 77 war und am 13. März 1977 nach einem elfstündigen Verhör durch den kommunistischen Sicherheitsdienst gestorben war.

Während der Mitbegründer der Charta 77 und spätere tschechische Präsident, Vaclav Havel, bei einer Feierstunde sagte, der Geist der Charta könne noch heute inspirieren, fühlen sich allerdings viele der einstigen "Chartisten" - wie sie sich selbst nennen - von der Geschichte überrollt.

Der Beginn des Widerstands

Nach 1968 - nach der Niederwerfung des Prager Frühlings - galt in der Tschechoslowakei generelles Spielverbot für englische Songtexte. An der Rockgruppe "plastic people" wollte das KP-Regime des Präsidenten Husak ein neues Exempel gegen "Rowdytum“ statuieren. Das führte zum Schulterschluss der Intellektuellen mit der in die Illegalität abgedrängten Rockszene.

Grundlage für den Widerstand bildete die KSZE-Schlussakte, die 1975 in Helsinki von 35 Staaten unterzeichnet worden war. Die Ziele dieses Abschlussdokuments von Helsinki sind in mehreren so genannten "Körben" formuliert. Darin verpflichten sich die Signatarstaaten zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, im so genannten "Korb 3" zur Steigerung des Austauschs von Kultur und Bildung, unabhängig vom jeweiligen politischen und wirtschaftlichen System.

Die Geburtsstunde der Charta 77

Diejenigen, die sich in den ersten Tagen des Jahres 1977 in Vaclav Havels Wohnung trafen, beriefen sich ausschließlich auf die Helsinki-Schlussakte. Zunächst unterzeichneten 242 tschechoslowakische Bürger die Charta. Sie waren sofort massiven Repressionen, Diffamierungen, Verhören und Haftstrafen ausgesetzt.

Der Schriftsteller Pavel Kohout betont, es sei die Staatssicherheit gewesen, die die ersten Unterzeichner der Charta, als sie das Dokument dem Parlament überbringen wollten,“wie Ganoven“ durch Prag gejagt habe und dadurch selbst auf die Charta aufmerksam machte, noch bevor internationale Zeitungen über die Charta und ihre Ziele berichteten. "Mehr Propaganda“, so Kohout, als durch diese Aktion der Staatspolizei "konnten wir uns nicht vorstellen“.

Das Medium der "Chartisten"

Mitte März starb der Philosoph Jan Patocka, der erste Sprecher der Charta, nach stundenlangen Verhören. Jana Starek, Mitbegründerin der Internationalen Helsinki Föderation für Menschenrechte, würdigt, dass Österreich damals unter Bundeskanzler Kreisky Charta-Unterzeichner bereitwillig aufnahm. Ivan Binar war der erste, der mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern nach Österreich ausreiste.

Das Medium der "Chartisten" und ihrer Sympathisanten wurde der Samisdat. Im Samisdat, was im Russischen soviel wie Selbstverlag bedeutet, wuchs eine unabhängige Literaturszene heran. Vilem Precan, inzwischen ebenso emigriert, sammelte diese Texte, die auf Durchschlagspapier getippt im Untergrund von Hand zu Hand gingen. Karl Schwarzenberg unterstützte diese Dokumentation, überzeugt davon - wie er schrieb -, dass das im Untergrund sich entwickelnde geistige Leben die Grundlage für eine natürliche Existenz der Zukunft sei.

Das offizielle Ende der Charta

Bis 1989 hat die Charta 572 Dokumente veröffentlicht - zu Menschenrechtsfragen, zu ökologischen Fragen; sie hatte kritisiert und informiert. Seit Tschechiens Staatspräsident Vaclav Klaus in einer Europaratssitzung Bürgerinitiativen als "eine gefährliche postdemokratische Erscheinung“ bezeichnete und die historische Rolle der Charta als überschätzt abtat, regte sich Widerspruch unter vielen, die die Ideale der Charta teilen. Selbst Vaclav Havel kritisierte die - wie er es nannte - "Boulevardisierung der Charta".

Das große Ziel der Wende sei 1989 gelungen, daher habe die Charta als lose Organisation, die sie immer gewesen sei, 1992 offiziell das Ende ihrer Arbeit beschlossen, sagt Pavel Kohout. Allerdings, so Vilem Precan, Historiker und Dokumentarist der Charta, sei Vieles an Aufklärungsarbeit, an Offenlegung der historischen Archive nach 1989 verzögert worden, weil der politische Wille gefehlt habe, sich mit der kommunistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er hoffe, dass dies jetzt gelinge. Auch der Politologe Bohumil Dolezal kritisiert, man habe verabsäumt, das Verhältnis zwischen Mitläufern des ehemaligen Regimes, der schweigenden Mehrheit im Lande und den aktiven Unterstützern der Charta 77 zu untersuchen und klarzustellen.

Zwischen Resignation und Initiative

Viele der Charta-Unterzeichner sind heute skeptisch geworden. Gerade weil sie, ohne dass das ihr Ziel gewesen ist, zum "Gewissen der Nation“ heranwuchsen. "Sie fühlen sich heute oft auch ausgegrenzt", sagt Jirina Siklova, die jahrelang bis zu ihrer Verhaftung Kurierdienste ins Ausland vermittelte.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hatte es seinen Freunden in der Dissidentenszene vorhergesagt, als er meinte: Die unabhängigen Intellektuellen seien von der anormalen Bedeutung, die sie vor 1989 hatten, in anormale Bedeutungslosigkeit gestürzt. Und - sie erleben heute als kritische Minderheit, was einer der jüngsten Charta-Unterzeichner von damals, Jachym Topol, als Schriftsteller bildhaft auf den Punkt bringt: "die Vergangenheit ...“

Hör-Tipp
Journal-Panorama, Montag, 26. März 2007, 18:25 Uhr

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