Jeder hat so seine Macken

Die Bäuchlein-Schätz-Methode

Es gibt Tage, da hat man ein gutes Bäuchlein, und welche, da ist es nicht so fein. Weil immerhin muss das Bäuchlein ja den Übergang bilden zwischen Oberweite und Hüftumfang. Das klingt jetzt weit oberflächlicher, als es ist. Versprochen.

Jeden Morgen, bevor ich mich dusche, schätze ich mein Gewicht. Dazu betrachte ich das Profil meines Bäuchleins. Nackt. Immer die linke Seite. Mein Gott, jeder hat so seine Macken. Ich stehe also da und denk mir: Hm. Heute haben wir ein gutes 54er-Bäuchlein. Und dann stelle ich mich auf die Waage und stelle fest: Stimmt.

Mittlerweile beherrsche ich die Bäuchlein-Schätz-Methode (BSM) fast perfekt. Demnächst schreibe ich den Ratgeber "Erkenne dich selbst anhand deiner Mitte" und verdiene damit mächtig Kohle. Natürlich mit Kurssystem. Und mehrstufigem Ausbildungsprogramm. Es wird den Grad "BSM-Instructor" geben, der kommt gleich nach dem "BSM-Trainee" und darf schon ein bisserl mehr. Wirklich interessant wird es erst beim "BSM-Training Supervisor". Die Ausbildung ist modular aufgebaut, und kostet, vom Einführungsseminar bis zum Abschlusszertifikat, 35.000 Euro. Dazu gibt es eine Körperfettwaage gratis.

Im Ernst: Ich stehe wirklich am Morgen vor dem Spiegel und schätze mein Gewicht anhand meines Bäuchleins. Das hat schon seinen Grund. Oder zwei. Ziemlich kleine Tittchen. Dafür ein im Verhältnis relativ ausgeprägtes Hinterteil. Der Übergang von den Tittchen zum Hinterteil ist ein wesentlicher Part im Gesamtkonzept. Man will ja nicht am Ende des Tages wie ein Kegel ausschauen: Kleine Tittchen, mittleres Bäuchlein, feistes Ärschlein.

Richtig pralle, zum Hintern passende Brüste hatte ich nur kurz vor und nach der Geburt meines Sohnes. Sein Vater war begeistert. Allerdings waren die Dinger undicht. Stilleinlagen im Hochsommer sind so eine Sache. Damals hatte ich aber auch noch ein rundes Gesicht. Im Lauf der Jahre habe ich die Naivität daraus entfernen lassen und kann, wenn ich möchte, richtig gut aussehen.

Nicht, dass ich jemals große Brüste haben wollte. Beim Laufen fliegen sie einem um die Ohren und wenn man beim Sportklettern tief Luft holt, klebt man nicht mehr ordnungsgemäß an der Wand, sondern hängt in den Seilen.

Warum ich Ihnen das erzähle? Wahrscheinlich, weil Frühling ist. Oder einfach, weil es die Wahrheit ist. Eine beständige Konstante in meinem Leben. Etwas, an dem man sich orientieren kann, weil, nach fast vierzig Jahren kennt man das Maximum an (Körper)Gewicht ziemlich genau, das man durchs Leben tragen mag. Und dass einem keine Etuikleider passen, weil das Verhältnis von Oberweite und Hüftumfang dabei nicht mitspielt. Man kommt auch ohne Etuikleider gut über die Runden.

Natürlich habe ich einen Knacks. Und bin in meinem Leben schon des öfteren an einer mittelschweren Essstörung vorbeigeschrammt. Zum Beispiel in meiner makrobiotischen Phase. Damals wog ich nur mehr 48 Kilo und hatte das Gefühl, die Welt zu beherrschen. Dabei beherrschte ich nur mich. Das ist ja auch ein Kontrollzwang: Wenn sich schon nicht das Leben kontrollieren lässt, dann zumindest das Gewicht. Und wenn schon nicht die Seele leicht ist, dann zumindest der Körper. Oder so.

Das Schönste an der Makrobiotik war übrigens der Verzicht. Und das Essen. Ich glaube, ich hab in dieser Zeit zum ersten Mal gut gekocht. Und Berge gegessen. Trotzdem wurde ich immer weniger - irgendwas lief da aus dem Ufer. Nach vier Monaten war ich nicht nur dünn, sondern dünnhäutig - und stolperte quasi über ein Vanillekipferl meines Vaters: Und aus.

Na ja, das ist lange her. Mittlerweile stehe ich jeden Morgen vor dem Spiegel und halte Zwiesprache mit meinem Bäuchlein. Es ist ein hübsches Bäuchlein. Meistens. Es ist auch ziemlich stur und oft ist das, was ich grad wiege, ein Kompromiss zwischen dem, was ich will und dem, was es bereit ist, herzugeben.

Aber das ist in Ordnung. Immerhin habe ich begonnen, mich anzusehen. Und im Ansehen habe ich begonnen, mich zu versöhnen. Mit meinem Bäuchlein. Ich hab es schon richtig lieb gewonnen.