Wenn Grenzen verschwimmen

Kältere Schichten der Luft

Antje Rávic Strubels neuer Roman fällt aus dem Rahmen: ein feinsinniges, manchmal auch boshaft raffiniertes Buch darüber, wie wenig festgeschrieben die Identitäten der Geschlechter sind - und wie fragil die Vorstellung vom eigenen Ich ist.

Alle reden vom Glück. Sitzen am Lagerfeuer und philosophieren endlos darüber, wie gut's ihnen eigentlich geht. Sie haben einen Job in einem Kanu-Camp in Schweden, müssen sich nicht kümmern ums Dach überm Kopf und das Brot auf dem Tisch.

Es ist eine seltsame Gruppe, die sich in diesem Lager fern von Deutschland zusammen findet. Abenteurer, Arbeitslose, ewige Jugendliche. Das Camp ist ein Schiff, das durch die Tage tuckert und alle birgt.

Auch Anja gehört zur Mannschaft. Sie ist 30 und ein wenig ratlos. Keine Beziehung, keine Stelle in Aussicht, wenig Perspektiven. In so einem Sommer im Grünen kommen Zeit und Rat. Das hofft sie zumindest. Bis zu jenem Tag, da eine ihr unbekannte Frau auftaucht und sie ungestüm in den Arm nimmt. Ja mehr noch: Sie stellt Anjas Welt auf den Kopf.

Suche nach innerer Standortbestimmung

"Kältere Schichten der Luft" von Antje Rávic Strubel fällt aus dem Rahmen. Kein leichter Sommerroman mit viel Liebe und Leidenschaft, sondern ein feinsinniges, manchmal auch boshaft raffiniertes Buch darüber, wie wenig festgeschrieben die Identitäten der Geschlechter sind.

Anja weiß, was sie will. Glaubt sie zumindest. Sie liebt Frauen, holt sie in ihr Bett und lässt sich dabei auf keine tiefere Bindung ein. Doch die One-Night-Stands langweilen sie immer mehr. Schweden, das könnte eine innere Standortbestimmung werden. Und es lässt sich auch ganz gut an. Bis zu jenem Tag, da die Fremde auftaucht. Sie gibt Anja den Namen ihres verschwundenen Geliebten, Schmoll, und umgarnt den jungen Mann, den sie in ihr sieht. Anja ist verwirrt. Ist sie nun Anja, cool und distanziert, oder doch auch Schmoll, unsicher und verführbar?

Die Stimmung schlägt um

Was als Spiel beginnt, läuft aus dem Ruder und lässt sich nicht mehr steuern. Anja, anfangs großspurig in ihren Thesen über Leben und Lieben, sackt immer mehr in sich zusammen. Das merken auch die anderen. Sie beobachten, wie sich vor ihren Augen eine schwer fassbare Liebesbeziehung entwickelt. Das Merkwürdige daran ist, dass kaum jemand unbeteiligt bleibt. Erste Reibereien tauchen auf, auch Eifersucht.

Die Stimmung im Camp verändert sich, der lockere Ton verschwindet. Plötzlich ist alles ernst: Man bespitzelt einander argwöhnisch, die Dialoge werden kryptisch, die Angriffslust größer. Wer verbal nicht mehr weiter weiß, benützt Faust und Körper.

Grenzen sprengen

Antje Rávic Strubel beschreibt eine Gemeinschaft fern des normalen Alltags. Ein geschlossener Zirkel, mit festen Regeln und Hierarchien. Doch dort, wo es um Leidenschaften geht, herrscht Anarchie. "Kältere Schichten der Luft" ist ein kühnes Buch, das sich nicht scheut, Grenzen zu sprengen. Realität und Phantasie sind nicht zu trennen, Hirngespinste, Projektionen und Obsessionen prallen hart aufeinander und gehen seltsame Allianzen ein.

In Antje Rávic Strubels Roman scheint Identität viel weniger genau definiert zu sein, als man vermuten möchte. Die Barrieren zwischen den einzelnen Figuren und ihrer eindeutigen geschlechtlichen Zuordnung verschwimmen. Vieles bricht auf, anderes hinterlässt quälende Fragen. Die Verunsicherung wird so groß, dass Hilflosigkeit und Staunen in Aggression münden.

Eigenart und Eigensinn

Das könne nun nach mühsamem Psychodrama klingen. Tut es aber nicht. Das Buch von Antje Rávic Strubel hat Eigenart und Eigensinn - und darin viele Seiten. Das Buch, ein subtiles Plädoyer fürs Androgyne, ist feinnervig, hinterlistig und auch gemein. Immer dann, wenn man klare Linien zu erkennen meint, entzieht es sich und lässt die Leser im Regen stehen. Die Stimmung zwischen den Zeilen wird elektrisch, ohne dass sich die Sprache unnötig aufheizt und entlädt. Sie bleibt am Boden, driftet dahin und verliert sich kaum je im Vagen.

"Immer wieder machte jemand die Türe zu, und man stand an der Haltestelle", heißt es an einer der zentralen Stellen der Handlung. Haltestellen: vielleicht ist das eines der Schlüsselworte des Bandes. Wer unterwegs bleibt, verliert die Orientierung und gewinnt an Gelassenheit. Vielleicht kommt ein Bus vorbei - vielleicht auch nicht, und vielleicht ist ja alles, was man sich da so einbildet oder spürt, gar nicht wahr und nichts anderes als eine Spiegelung im nordischen Licht.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 2. März 2007, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 4. März 2007, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Antje Rávic Strubel, "Kältere Schichten der Luft", S. Fischer Verlag, ISBN 978-3100751218