Eine Vorwintergeschichte

Kali

Wer an der Oberfläche des Textes bleibt und nicht gleich interpretiert, der hat am meisten von diesem Buch, in dem Handke manchmal durch die gehobene Sprache zu irritieren vermag, in dem er aber auch manchmal subtile Komik aufblitzen lässt.

"Der Teufel hole die Bücher, die einer versteht," hatte vor Jahren schon Albert Paris Gütersloh verkündet; das war allerdings nicht als Lob der Unverständlichkeit gedacht, sondern vielmehr als Kritik an den allzu bemühten Interpreten, die mit ihrem Verständnis die anderen Leser im wahrsten Sinne des Wortes bevormunden wollten.

Handkes neues Buch ist im besten Sinne ein Text, der es den professionellen Auguren schwer macht, schnell ein Verständnis und auch ein kritisches Einverständnis herzustellen.

Textbuch mit vielen Schnitten

"Kali" - schon der Titel gibt Rätsel auf. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fügte ihrer Ankündigung des Buches vorsorglich ein Bild der indischen Göttin Kali bei, der Göttin des Todes und des Verderbens, aber auch der Erneuerung. Mag sein, dass das auch im Text drinnen ist, deutlicher aber ist der Bezug zum Element Kalium, auch Kali genannt, abgeleitet aus arabisch "al qali", Pottasche, denn Handkes Erzählung führt in den Berech des Bergbaus, nicht gleich, aber doch so allmählich.

Dem Verlauf des Textes sorgfältig zu folgen, fällt schwer. Am besten, man liest das Ganze als Textbuch eines Filmes mit vielen Schnitten: Zunächst wird ein Ich eingeführt, ein raunender Beschwörer des Präsens, kann man sagen, so ganz anders als der typische Erzähler, etwa Thomas Manns raunender Beschwörer des Imperfekts:

Auch mir hat sie Angst gemacht, macht sie Angst. Aber ich möchte mich ihr stellen.

So beginnt die Erzählung, und man fragt sich sofort, wer diese "sie" ist, die Angst verbreitet. Da kann man wohl an die Göttin Kali denken, aber es tritt nun eine Figur auf, eine Sängerin, die ein erfolgreiches Konzert hinter sich hat.

Der Salzberg im Fernsehen

Man folgt ihr durch die Großstadt, sie begegnet einigen Menschen, die sie kennen, eine Tournee ist offenkundig zu Ende, und sie reist - altfranzösische Texte begleiten diese Fahrt - "in die Gegend gleich nebenan", wo es den "Kindheitsfluss" gibt und der Winter noch ein Winter ist.

Eine Ankündigung im Fernsehen deutet auf diese Gegend voraus: Da gibt es den "Salzberg", und ein Mann erscheint auf dem Bildschirm, einen "fußballgroßen Salzbrocken" haltend und das Wort "Kali" des Öfteren wiederholend. Die Gegend des glitzernd weißen "Salzbergs" lässt sich so einfach nicht als Region des Mythos bestimmen. Es ist dies vielmehr ein "Auswanderer-Ort", ein Toter Winkel; der Berg ist bedeckt mit "von dunklen Schlieren durchzogenem Kalisalz".

Da gerät nun diese Figur, so will es die Stimme dieses Ich, das sich nun nicht mehr so recht vorwagt, in eine eigentümliche Gesellschaft. Man lebte dort früher vom Salz, aber, wie die Pastorin weiß, "Kali-Luft" und "Kali-Wind" haben in dem Kirchlein "die Jahrtausendbilder von den Wänden" gefressen.

Kafka lässt grüßen

Eigentümlich die Beziehung zu dem "Salzherrn", eigentümlich auch die Rede von den verschwundenen Kindern, vor allem von einem vermissten Mädchen. Es ist ein Gang in die Tiefe, und nicht von ungefähr werden wir an den "Heinrich von Ofterdingen" des Salineningenieurs Novalis erinnert.

Auch Kafka lässt grüßen, wenn die Geschichte vom Turmbau von Babel umgedreht wird. Wird im biblischen Bericht die Vermessenheit der Menschen durch die Sprachenverwirrung gestraft, so können gerade durch die Sprachenvielfalt die aus verschiedenen Ländern stammenden Menschen, die da unter der Erde die Stollen graben, einander besser verstehen. Das Kind, so mag man es den Andeutungen entnehmen, wird wiedergefunden.

Da gibt es ein Fest, das unter der Bedrohung gefeiert wird: Flugzeuge "überflogen das Camp, keine zivilen, versteht sich", heißt es einmal; wer denkt da nicht - unter anderem - an die Einsätze der NATO-Bomber über Serbien? Doch so einfach lässt sich dieser Text nicht in unsere Geschichte oder unsere Alltagswirklichkeit zurückübersetzen.

Parabel, Rätsel oder Märchen

Handkes Stärke besteht darin, dass er seinen Text immer vor solchen Zugriffen just dann zu entziehen vermag, wenn man die Lösung des darin verborgenen Rätsels gefunden zu haben meint. Vielleicht aber ist darin auch kein Rätsel verborgen. Wer an der Oberfläche des Textes bleibt und nicht gleich sein Interpretationsgebläse anwirft, der hat am meisten von diesem Buch, in dem Handke manchmal durch die gehobene Sprache irritieren, ja auch verärgern mag, in dem er aber manchmal subtile Komik aufblitzen lässt und in derer einen genuinen Wut angemessenen Ausdruck verleiht, einer Wut, die befreit, so wie die Rede des Wilden Mannes in Handkes Theaterstück "Untertagblues".

Man kann den Text als Parabel, als Rätsel, als Märchen lesen, man lasse sich aber lieber von den dichten Bildern leiten. Denn Handke hat, so will es mir scheinen, eine List gebraucht, die Edgar Allan Poe in seiner zu Recht berühmten und gerühmten Erzählung "The purloined letter" ("Der entwendete Brief") beschrieben hat: Um etwas zu verbergen, was von den andern intensiv gesucht wird, verstecke man es nicht, denn das Versteck wird gefunden: Man platziere es so, dass alle es sehen können, an der Oberfläche. So hat es, wie ich meine, Peter Handke in dieser Erzählung gemacht.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Peter Handke, "Kali. Eine Vorwintergeschichte", Suhrkamp Verlag, 2007, ISBN 978-3518418772