Ursachen und Folgen bitterer Armut
Erziehung à la Argentina
Im unteren Drittel der argentinischen Gesellschaft sind die familiären Bindungen zerbrochen, weil Eltern ihre Kinder weder ernähren, noch für die Erziehung sorgen können. Die Ernährer-Rolle übernehmen Staat, Kirchen oder private Träger, die des Erziehers aber niemand.
8. April 2017, 21:58
Eine Sozialarbeiterin über argentinische Familienhilfe
Wer einmal in der extremen Armut gelandet ist, findet entweder sofort wieder heraus oder er bleibt dort und richtet sich im Elend ein - sich selbst und seine Kinder.
In Argentinien geschieht dies oft. Viele Eltern können dort weder für den Unterhalt, noch für die notwendige Erziehung ihrer Kinder sorgen. Die Rolle des Ernährers übernimmt dabei der Staat, die Kirchen oder private Träger, die Rolle des Erziehers jedoch niemand.
Verwischte Rollen
Während die Angehörigen der Mittelschicht zusammen rücken und sich gegenseitig helfen, ist am unteren Ende der Gesellschaft selbst dieses Netz weg gebrochen. Die Familie existiert nicht mehr. Es herrschen nicht mehr die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft, in der jeder Rechte und Pflichten hat - Erwachsene wie Kinder.
Selbst die erste Regel des menschlichen Zivilisationsprozesses gilt nicht mehr: das Verbot des Inzestes. Die Mutter geht arbeiten, die Tochter passt auf ihre Geschwister auf und der arbeitslose Mann sitzt daheim vor dem Fernseher. Die Rollen sind verwischt. Und gerade in dieser Situation passiert es: Immer mehr Mädchen werden von den Partnern ihrer Mutter missbraucht.
Die einzige Ursache
Kinder solcher Familien sind in solchen Situationen auf sich allein gestellt. Niemand hilft ihnen. Die Sozialarbeiterin Estela Fourmantin schildert die katastrophalen Zustände im Detail und weist auf die Ursachen hin, warum es in Argentinien zu jener verheerenden Situation kommen konnte:
"Diese Entwicklung hat eine einzige Ursache", betont sie, "nämlich die absolute Perspektivlosigkeit der Leute. Sie leben schon seit ein oder zwei Generationen in einer solchen Situation. Kein Familienmitglied hat eine richtige Arbeitstelle. Den Kindern ist die Kultur der Arbeit fremd. Es findet kein Familienleben mehr statt. Die Eltern bereiten keine Mahlzeiten zu und essen nicht mehr gemeinsam am Tisch. Sie kümmern sich nicht um die Bezahlung der Licht- oder Wasserrechnung und kaufen auch keine Kleidung für ihre Kinder."
Die Folgen fehlender Autorität
Die Familie von früher, die Autorität der Eltern, existiert nicht mehr. Jene Familie, in der die Eltern ihre Kinder ernährt und erzogen haben, ist nicht mehr existent.
An ihre Stelle ist aber keine andere soziale Struktur getreten. Die Familien brechen auseinander, und die Lehrer sind völlig überfordert. Die Kinder gehen nur noch zum Essen in die Schulen und wachsen in einer Subkultur auf, wo Arbeit und Ausbildung keine Rolle spielen, dafür aber Drogen, Gewalt und Macht.
Straßenkinder
"Früher suchten nur Frauen aus den Armenviertel bei ihr Hilfe", erklärt die Sozialarbeiterin Christina Juen von einer Beratungsstelle für Mütter, die von ihren Kindern geschlagen werden. "Heute kommen Frauen bereits aus der Mittelschicht. Es sind Familien, wo der Vater früher Arbeit hatte, aber - seit der letzten oder der vorletzten Krise - arbeitslos ist. Er verwaltet kein Haushaltsbudget mehr. Taschengeld bekommen die Kinder schon lange nicht mehr. Die Familie ernährt sich in öffentlichen Speisesälen und von Sozialprogrammen. Der Vater hat in den Augen seiner Kinder seine Autorität als Familienoberhaupt verloren."
In der Mittelschicht löst oft die Trennung der Eltern auch die Trennung der Kinder von der Mutter aus. Die Frau alleine verdient zuwenig, um den Lebensstandard zu halten. Die Männer zahlen keinen Unterhalt oder manche zahlen direkt an ihre Kinder. Die Frau verliert ihre Autorität als Familienoberhaupt und hat nichts mehr zu entscheiden. Fazit: Die Kinder landen auf der Straße.
Hör-Tipp
Journal-Panorama, Mittwoch 14. Februar 2007, 18:25 Uhr
Link
Wikipedia - Argentinien