Roman von Wilhelm Genazino

Mittelmäßiges Heimweh

Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino hat sich mit seinen über 20 Romanen und seiner herausragenden Fähigkeit, die Wirklichkeit "zum Fürchten gut" zu beschreiben, den Ruf eines resignativen, aber dennoch humorvollen Literaten erarbeitet.

Selten hat sich Dieter Rotmund, der als Controller in einer Arzneimittelfabrik arbeitet, so allein gefühlt wie in diesem Sommer. Gelangweilt und desinteressiert setzt er sich in eine übervolle Gaststätte. Auf dem Fernsehschirm flimmert ein Fußballspiel, auf dem Boden liegt ein Ohr. Sein Ohr.

Es muss mir im Gebrüll unbemerkt abgefallen sein. Offenbar hat es niemand bemerkt. Ich überlege kurz, ob ich das Ohr aufheben und mitnehmen soll. Aber ich kann gar nicht überlegen, ich bin erstarrt. Mühsam mache ich mir klar, dass ich seit ein paar Minuten in einer Tragödie lebe.

Zurückgewiesen

Das "tragische Lebensgefühl" ist für den Mittvierziger an sich nichts Neues. Dem Verlust seines Ohrs misst er wenig Bedeutung bei, plagt ihn doch ein anderer Abschied ungleich mehr. Seine Frau Edith, Mutter ihrer gemeinsamen kleinen Tochter Sabine, entzieht sich immer mehr seiner Liebe. Es ist eine langsame qualvolle Entfremdung, die mit körperlicher Zurückweisung beginnt, sich mit der Hinwendung zu einem anderen Mann fortsetzt und mit der Mitteilung, dass sie seine Stimme nicht mehr ertragen könne einen vorläufigen Höhepunkt findet.

Um wenigstens seiner Tochter hin und wieder nahe zu sein, pendelt der Zurückgewiesene zunächst noch zwischen seinem trostlosen Ein-Zimmer-Apartment in der Nähe seiner städtischen Arbeitsstätte und der gemeinsamen Wohnung in Ediths Heimat, dem schönen, aber langweiligen Schwarzwald. Doch schon bald verliert er sich immer mehr in seinen manischen Selbstreflexionen und detailbesessenen Alltagsbeobachtungen.

Boshafte Analysen

Nichts entgeht dem kritischen Blick des einsamen Streuners. Jede noch so kleine Gemütsbewegung der Kollegen im Großraumbüro wird da genüsslich einer boshaften Analyse, jede Frau einem beinharten imaginären Vergleichstest mit Edith unterzogen. Eine Möwe, die sehnsüchtig einem abfahrenden Autobus nachschaut; eine Frau, die sich von ihrem Dackel ablecken lässt oder der seltsame Trost, der von der Auslage einer muffigen Wollstube ausgeht - mit ungeahnter Energie verbohrt sich Rotmund ins gänzlich Banale, um sich von seiner eigenen Mittelmäßigkeit abzulenken.

Es ist alles lächerlich. Ich betrachte die peinlichen Bilder deswegen so unerbittlich, weil ich mich mit ihrer Hilfe auf die Sang- und Klanglosigkeit vorbereite, mit der ich demnächst wahrscheinlich sterben werde. Seit ich ein Ohr weniger habe, schließe ich immer mal wieder in meiner Phantasie mein Leben ab. Aber nach einiger Zeit merke ich, dass sich mein Leben nicht um meine inneren Beschlüsse kümmert und einfach weitergeht. Das ist ein bisschen peinlich, merkt aber niemand.

Beobachtung beim Absturz

Auch die lose Beziehung zu einer Zufallsbekanntschaft und der unerwartete, doch gar nicht wirklich herbeigesehnte berufliche Aufstieg zum Finanzdirektor können Rotmund nur kurz aus seiner lethargischen Resignation reißen.

Ironisch, aber auch ein bisschen mitleidig erzählt Wilhelm Genazino die Geschichte eines Mannes, der sich selbst akribisch beim Abstürzen beobachtet, dem immer klarer wird, wie halbherzig seine Gefühle werden, wie durchschnittlich sein Leben verläuft, und wie hilflos er dabei zusehen muss, wie es einfach an ihm vorüber zieht. Rotmund selbst stellt sich aber nicht nur als verzweifeltes Ekel dar. Ein wenig Glück würde man ihm schon gönnen, diesem feinsinnigen Adlerauge mit seinen verschrobenen, altmodischen Einsichten.

Am Ende nehmen die Kollegen wortlos hin, dass mir ein Ohr fehlt, beziehungsweise sie schauen nicht einmal genau hin. Mit einem so kleinen Mangel kann man nicht mehr auffallen in einer von Schrillheiten überfüllten Welt. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass ich von dieser überdrehten Gegenwart einmal profitieren würde. Mein Gott, wie konnte ich mein Ohr nur so wichtig nehmen!

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

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Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 2. Februar 2007, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 4. Februar 2007, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Wilhelm Genazino, "Mittelmäßiges Heimweh", Carl Hanser Verlag, 2007, ISBN 978-3446208186