Bruno Kreisky Preis für das politische Buch 2006
Geschichte Europas
Der Preis für Europas Wiedergeburt war hoch und der Weg zur Stabilität ein langer. Dies zeigt Tony Judt in diesem bemerkenswerten Buch auf, für das er mit dem "Bruno Kreisky Preis für das politische Buch 2006" ausgezeichnet wird.
8. April 2017, 21:58
Das faschistische und nationalsozialistische Europa wurde 1945 von Nichteuropäern befreit und teilweise wieder besetzt, Osteuropa hat sich 1989 aus eigener Kraft befreit. Diesen Nachkriegs-Weg der einzelnen Länder beschreibt der englische Historiker Tony Judt auf über 1.000 Seiten. Es geht ihm dabei nicht um eine Theorie der modernen europäischen Geschichte, sondern um eine Darstellung der historischen Vielfalt. Vergleiche werden herangezogen und vorsichtige Thesen erstellt. Auch in Westeuropa war die Periode der Diktaturen 1945 noch lange nicht zu Ende.
In Spanien regierte das Franco Regime bis 1975, in Portugal der autoritäre Salazar bis zur Nelkenrevolution 1975, in Griechenland putsche die Obristen-Junta erst 1967 und stürzte sieben Jahre später über den Zypernkonflikt. Indem Tony Judt beschreibt, wie die Demontage dieser westeuropäischen Nachkriegsregime von innen erfolgte, relativiert er die These von der Besonderheit der Selbstbefreiung im kommunistischen Osteuropa.
Der Kommunismus implodierte
Antikommunismus einte. Doch auch die Volkswirtschaften dieser autoritär geführten Länder waren längst in die internationalen Geld- und Arbeitsmärkte integriert. Die Rückkehr nach Europa hatten weite Teile der Gesellschaft bereits vollzogen, als die Regimes fielen. Hier werden auch die Unterschiede zu Osteuropa deutlich, die sich teils in Palastrevolutionen wie in Rumänien vollzogen oder wie in Ungarn aus den Reihen der Reformkommunisten veranlasst wurden. Gemeinsames Phänomen bleibt der nahezu gewaltlose Umsturz in den ausgebluteten osteuropäischen Regimes. Weder Washington noch große Revolutionen haben den Kommunismus zu Fall gebracht, er implodierte scheinbar ohne äußeren Anlass.
Obwohl Tony Judt ein wenig widersprüchlich dem sowjetischen Parteichef Michael Gorbatschow kein direktes Verdienst an den Ereignissen von 1989 zugesteht, anerkennt er die ungeheure strategische Leistung, die ein Großreich innerhalb von kürzester Zeit in sich zusammenfallen ließ. Er übersieht dabei, dass auch "zulassen" kalkuliert sein kann:
Gorbatschow tat nichts, was die Revolutionen von 1989 direkt beschleunigt oder gefördert hätte. Er sah einfach zu. Doch Gorbatschow tat mehr, als die Kolonien einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Indem er andeutete, dass er nicht intervenieren würde, nahm er den Machthabern der Satellitenstaaten die einzige Basis ihrer politischen Legitimität: das Versprechen oder die Androhung einer Moskauer Militärintervention. Ohne diese Drohung waren die einheimischen Regimes entblößt.
Der Weg in die Europäische Union
Das Leitmotiv der intellektuellen Dissidenten im kommunistischen Osten wurde schon lange vom Gefühl getragen, von den europäischen Wurzeln abgeschnitten zu sein. Trotz mancher überstürzter sicherheitspolitischer Entscheidungen und Auswüchsen überstürzter Transformationen, liefen die osteuropäischen Gesellschaften nicht wirklich Gefahr, sich einem ungesteuerten Kapitalismus oder einer Nachahmung des amerikanischen Weges zu verschreiben. Dies lag am kulturellen Erbe und an der realisierbaren Option, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Das Gegenteil von Kommunismus war somit nicht Kapitalismus pur, sondern Europa, heißt es bei Tony Judt.
Die Diskussion über "Europa" wurde weniger abstrakt und deshalb interessanter für junge Leute. Sie war nicht mehr einfach das Wehklagen über die verlorene Kultur Prags oder Budapests, sondern manifestierte sich als eine Reihe konkreter und erreichbarer politischer Ziele.
Unterschiedliche Sichtweisen
Mit dem Ende der Nachkriegeszeit und der Stabilisierung Europas hat auch die Ära der europäischen Größenphantasien ein Ende gefunden. Europa ist heute vereinigt, aber das europäische Gedächtnis ist zutiefst asymmetrisch geblieben. Während sich die westlichen Gesellschaften nach langem Ringen ihrer NS-Vergangenheit und dem Holocaust gestellt haben, überlagern sich die politischen Verbrechen im Osten und harren erst einer Aufarbeitung. So bleibt die Holocaust-Gedenkstätte in Budapest noch schwach besucht, während das Terrorhaus, das die Geschichte der Diktatur in Ungarn erzählt, von Besuchermassen gestürmt wird.
Die unterschiedlichen Sichtweisen des Westens und des Ostens auf die jeweils anderen totalitären Regime bildet einen dritten Teil dieses Opus Magnum der europäischen Nachkriegsgeschichte, das als wirklich gelungen bezeichnet werden kann. Gelegentliche historische Unschärfen sind bei solch einem umfangreichen Werk wohl unvermeidlich.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Tony Judt, "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart", aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork und Hainer Kober, Hanser Verlag München/Wien, 2006, ISBN 978-3446207776
Link
Renner Institut - Kreisky-Preis 2006