Hannibal Lecters Kindheit
Hannibal Rising
Allen Erwartungen und Spekulationen zum Trotz hat Thomas Harris seinen Hannibal Lecter noch einmal in die Welt der Bücher und des Films geschickt. Thema von "Hannibal Rising" ist - wie der Titel schon verrät - Lecters Kindheit.
8. April 2017, 21:58
Oops, he did it again. Er hat es wieder getan. Allen Erwartungen und Spekulationen zum Trotz hat der inzwischen 66-jährige Thomas Harris seinen monströsen Helden Hannibal Lecter noch einmal in die Welt der Bücher und des Films geschickt. Nach "Roter Drache", "Schweigen der Lämmer" und zuletzt "Hannibal", jenen höchst erfolgreich verfilmten Romanen rund um die von Anthony Hopkins verkörperte Figur des Psychiaters, Ästheten und Serienmörders Lecter, ist die Tetralogie nun komplett und - ohne es verschreien zu wollen - das Projekt wohl auch endgültig abgeschlossen.
Flucht vor den Nazis
In "Hannibal rising" geht es um die Kindheit und das Heranwachsen des späteren Kannibalen. Der entstammt einem alten litauischen Adelsgeschlecht mit eigener Burg namens Lecter; geboren wird er wenige Jahre vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, erzogen wird das geniale Wunderkind von einem Hauslehrer deutsch-jüdischer Herkunft. Als die Nazis ihren so genannten "Russlandfeldzug" beginnen, flüchtet die Familie Lecter samt Dienerschaft in ein Jagdhaus in die litauischen Wälder.
Dort überlebt sie den Einmarsch, aber nicht den Rückzug der deutschen Truppen und ihrer litauischen Kollaborateure drei Jahre später. Die Eltern sterben bei einem deutschen Fliegerangriff, Hannibal und seine jüngere Schwester Mischa fallen den hungernden und plündernden Nazihilfstruppen in die Hände. Um es kurz zu machen: Hannibal überlebt, die Schwester wird zum Opfer eines kannibalischen Aktes. Das ist das Trauma, die Urszene nicht nur dieses Buchs, sondern des gesamten "Hannibal"-Zyklus.
Erster Mord mit Samurai-Schwert
Nach einem kurzen Aufenthalt auf der ehemaligen Burg Lecter und in einem sowjetischen Waisenheim, wird Hannibal von seinem Onkel, einem prominenten Maler, und dessen japanischer Frau auf einem französischen Schloss aufgezogen. Der Junge entwickelt sich prächtig - in körperlicher, geistiger und abartiger Hinsicht. Den ersten Mord begeht er zur Verteidigung der Ehre seiner Stiefmutter, die ihn in die japanische Kultur, Tradition und vor allem Zeichenkunst einweiht. Zugeschlagen wird mit dem Samurai-Schwert; dem abgetrennten Kopf des Opfers, übrigens ein Metzger, der während der Besatzungszeit Frankreichs mit den Nazis kollaboriert hat, fehlt das Wangenfleisch.
Auf den restlichen 250 Seiten lässt Thomas Harris seine Romanfigur Hannibal einen blutrünstigen und delikaten Rachefeldzug gegen die litauischen Mörder und Kannibalen seiner Schwester führen - in Paris, in Litauen und in den USA, wo "Hannibal Rising" auch endet, und wo aus dem überaus talentierten Jungmediziner der spätere Psychiater Dr. Hannibal Lecter wird.
Trotz Banalitäten spannend
Thomas Harris hat sich von der Kritik für seine Geschichte über Hannibals Kindheit und Jugend viel Schelte eingefangen. Insbesondere im deutschen Sprachraum, wo das Buch im Dezember 2006 zeitgleich mit dem US-amerikanischen Original erschienen ist: Für den "Spiegel", in dessen Bestsellerliste sich "Hannibal Rising" auf Anhieb wieder gefunden hat, ist es ein "fader Thriller ohne Biss", die "Süddeutsche" mokiert sich über "banales Psychologisieren" und eine "unerträgliche politische Korrektheit", weil Lecters Opfer allesamt Mörder, Folterer und Kriegsverbrecher seien, und der österreichische "Standard" beklagt den schlechten Stil dieser Drehbuchprosa, spricht von "Farce" und "purer Zeitverschwendung". Allesamt haben sie recht, auch jener kluge Mann von der "New York Times", der den Serienmörder Hannibal als Phänomen der Pop- und Comics-Kultur - Marke "Batman" - begreift, und den neuen Roman als nicht schlecht, aber auch als nicht unbedingt nötig bezeichnet.
Tatsächlich ist der Stil zum Grausen, der Plot banal, und doch legt man das Buch nicht aus der Hand. Denn gelegentlich läuft sein Autor zu sarkastischer Top-Form auf - "Er hatte gerade Urlaub, und Grentz umzubringen schien ihm erquicklicher als Ski zu fahren.", heißt es etwa über den letzten Mord - und das meiste, was von Harris geboten wird, setzt sich beim "Hannibal"-kundigen Leser ohnehin sofort in Filmbilder um. Der Film soll übrigens noch im Februar dieses Jahres auch in unsere Kinos kommen. Anthony Hopkins wird man darin - naturgemäß - nicht sehen, den jungen Hannibal wird der französische Jungstar Gaspard Ulliel spielen, Regie führen weder Jonathan Demme, der "das Schweigen der Lämmer" kongenial inszeniert hat, noch Ridley Scott, der Florenz zum "Hannibal"-Schauplatz gemacht hat, sondern der Brite Peter Webber, der mit dem Vermeer-Film "Das Mädchen mit dem Perlenohrring" auf sich aufmerksam gemacht hat.
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Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Thomas Harris, "Hannibal Rising", aus dem Amerikanischen übersetzt von Sepp Leeb, Verlag Hoffmann und Campe 2006, ISBN 978-3455400502