Lebensschule Theaterproben

Leben auf Probe

Theaterproben sind eine Lebensschule. Das ist die These des Autors und Theaterwissenschaftlers Thomas Oberender. Was am Theater über das Leben zu lernen ist, und wie dieser Lernprozess im Detail aussieht, das beschreibt Oberender in seinem Buch.

"Leben auf Probe" verknüpft Erfahrungen, die Thomas Oberender am Theater sammelte, zu einem kompakten Kompendium. "Leben auf Probe" - das sind zehn Jahre Theaterarbeit kondensiert zu einem die Sinne weckenden literarischen Espresso. Der Autor nähert sich dem Theater von mehreren Seiten. Er schildert die Beiträge, die die am Entstehen einer Aufführung beteiligten Berufssparten leisten, von den Bühnenwerkstätten über die Beleuchter, hin zu den Souffleusen und den Schauspielern, allesamt Lehrberufe, die ein enormes Wissen über das Theater hüten.

Dazwischen tauchen Szenenbilder auf. Die Probenarbeit wird genau und doch unaufdringlich beschrieben. Das Geschehen auf den Theaterproben wird als eine eigene und von der Premiere unabhängige Theateraufführung geschildert. Thomas Oberender gewährt Einblicke hinter die Kulissen. Diese Einblicke sind nie indiskret und doch überraschend. So erfahren wir beispielsweise, dass Regisseure Autos lieben.

"Der Regieberuf ist ja oft einer der Selbstermächtigung", meint Oberender im Gespräch. "Leute, die vorgeben, zu wissen, wie es geht, die das Tempo vorgeben, die die Richtung vorgeben, die beschleunigen oder bremsen. Ich habe halt oft beobachtet, dass Regisseure oft ein geradezu erotisches Verhältnis zu Autos haben, deshalb fand ich das lustig, als in einer Szene der Regisseur plötzlich so unmittelbar mit einem Beispiel aus dem Straßenverkehr die Richtung wies."

Ein Kokon für Schauspieler

Regisseure sind auf den Theaterproben für die Form zuständig. Mit ihren kritischen Betrachtungen entwerfen sie für die Schauspieler einen schützenden Kokon, eine Hülle, in die sich die Darsteller hineinbegeben können, mit all ihren Gefühlen. Das, was die Zuschauer als gefühlvoll, als überzeugend und echt erleben, entsteht dadurch, dass in der Theaterarbeit ein gewisser Abstand zu den Emotionen gewonnen wurde.

Oberender vergleicht die Schauspieler mit einer Königin auf Staatsbesuch. Sie hat sich selbst im Griff, und verliert nicht vor eigener Ergriffenheit die Form.

"Bei allem Bedenklichen und bei allem, was mir als zerstörerisch in diesem Betrieb bewusst wurde, ist es doch der Versuch, eine besondere Form von Glück als Beispiele anschaulich zu machen", sagt Oberender. "Glück ist ja, wie Nietzsche sagt, ein merkwürdiger Zustand, der uns erinnerungslos macht. Für die Dauer, in der wir in diesem Glück sind, sind wir reine Gegenwartsmenschen, sind wir sozusagen a-historische Wesen. Dieser Zustand hat etwas zu tun mit dem Theater. Texte sind immer in der Gegenwart geschrieben, im Präsens, im Hier und Jetzt. Auch wenn sie Tausende von Jahren alt sind, geht es um eine Erfahrung von hier und jetzt, von Gegenwart."

Lebensschule Theatertexte

Thomas Oberender studierte Theaterwissenschaft und szenisches Schreiben an der Humboldt Universität und an der Universität der Künste in Berlin. Zunächst arbeitete er frei und begründete das "Theater neuen Typs". Bei Vollmond wurden "Lunatische Lesungen" von neuen Texten deutschsprachiger Autoren gegeben. Durch die Empfehlung von Botho Strauss, dem Oberender seine Dissertation und zwei Bücher gewidmet hatte, gelangte Thomas Oberender nach Bochum zum derzeitigen Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann. Weiter ging es an das Schauspielhaus nach Zürich, und dann nach Salzburg.

Für Oberender sind die Texte der Theaterautoren von Schiller bis Schimmelpfennig allesamt Lebensschulen. Das Verhalten von Menschen und historische Zusammenhänge werden in den Stücken durchgespielt. Es geht um Grundfragen der Existenz, um das Schuldig-werden, das Sterben-müssen, um den Umgang mit den eigenen Gedanken und Trieben.

"Die Idee ist, eine Phänomenologie zu entwickeln, durch das, was man beobachten kann, indem man einfach genau hinschaut und die Dinge als Vorgänge beschreibt, was ein Verfahren ist, das ich bei Walter Benjamin vorgebildet fand, bei Botho Strauß und bei Sebald", so Oberender. "Das aus der Anschauung zu beschreiben und der Versuch, die Gedanken und das zu sehende über die Bilder zu entwickeln, das war mein Ansatz. Wobei ich versucht habe, das, was ich selber als Mysterium am Theater empfinde, durch eine Vielzahl von Beispielen anschaulich zu machen, das ist nämlich die einzigartige Situation von Raum und Zeit, die das Theater entwickelt."

Die Suche nach dem wahren Gefühl

Alles, was wir in unserem Leben tun, entwickelt eine Konsequenz. Theaterproben bieten die verlockende Möglichkeit, die das Leben nicht bietet. Die Dinge können noch einmal getan werden.

Die Zuschauer wissen, was kommt, und trotzdem reagieren sie nicht wie Maschinen. Sie nützen ihr Wissen um den Lauf der Dinge für ein Erlebnis von Leben, das ihnen selbst im Leben niemals gelingen kann. Es ist die Suche nach dem wahren Gefühl, die sich im Spiel der Schauspieler spiegelt.

"Das Theater ist ja ein Ort, der, sobald man sich in diese Höhle hineinbegibt, einen mit Haut und Haaren verschlingt, kaum noch eine Außenwelt zulässt, und die zwischenmenschlichen Erfahrungen, die man dabei gewinnt, sind so intensiv und lebensnah, nicht nur auf der Probebühne, sondern auch im sozialen Miteinander, von der Kantine bis zu den Besprechungen, dass sie das eigene Verhältnis zum Leben extrem entwickeln und von vielen Illusionen befreien und gleichzeitig immer wieder in die Welt des Spielens zurückziehen, die ja für uns eine unglaubliche Möglichkeit, auch ein gelöstes Verhältnis zu sich selber bereithält", so Oberender.

Die Kunst, zu leben

Folgt man Thomas Oberenders Überlegungen und nimmt das Theater als eine Metapher für das Leben an sich, dann ist "Leben auf Probe" ein Buch über die Kunst zu leben. "Leben auf Probe" ist ein kluges Buch, in dem die Sprache eine Hauptrolle spielt. Anhand seiner kunstvollen Formulierungen, suggestiven Bilder und exakten Beschreibungen unternimmt der Autor den Versuch, das Bühnengeschehen - etwas wesenhaft Flüchtiges - einzufangen.

"Leben auf Probe" ist eine gelungene Liebeserklärung an das Theater. Gut so! Damit nur bloß nicht die düstere Prophezeiung wahr wird: "Wenn das Theater eingeht, ist auch der Eros eingegangen."

Service

Thomas Oberender, "Leben auf Probe. Wie die Bühne zur Welt wird", Carl Hanser Verlag