Warum sich Menschen selbst verletzen

Wenn ich blute, bin ich

Blut und Schmerzen, um sich lebendig zu fühlen, den Körper mit verunreinigten Gegenständen verletzen, wenn die innere Anspannung und der Hass gegen sich selbst unerträglich wird: Selbstverletzung hilft und kann zugleich ein Ruf nach Hilfe sein.

Nägelbeißen, Bulimie, Alkohol- und Drogensucht, Selbstvorwürfe - all das fällt unter den Begriff "Selbstverletzende Verhaltensweisen". So unterschiedlich wie diese seien auch die Anlässe für Autoaggressionen, sagt Melitta Fischer-Kern, Psychologin und Psychoanalytikerin am Wiener Allgemeinen Krankenhaus.

Borderline-Persönlichkeitsstörung

Traumatische Erfahrungen wie Missbrauch, Vernachlässigung, drogenabhängige oder depressive Eltern, auch Essstörungen oder psychotische Schübe können Menschen dazu bringen, sich zu schneiden oder zu verbrennen.

Selbstverletzung kann auch ein Symptom von Depressionen sein oder von der so genannten Borderline-Persönlichkeitsstörung, einer psychischen Krankheit, bei der Betroffene - vereinfacht ausgedrückt - unter extremen Stimmungsschwankungen leiden, ein zerrüttetes Selbstbild haben und schlecht mit negativen Gefühlen umgehen können.

Wegschauen, dulden, Ratlosigkeit und Vorwürfe

Vielen Betroffenen gelingt es jahrelang, ihren Zwang vor Familie, Freunden und Mitschülern zu verstecken - dem 25-jährigen Chris zum Beispiel: Seine Schwester hat den Eltern erzählt, dass sich der Bruder selbst verletzt. Dann kam die Verzweiflung, die Rat- und Hilflosigkeit war groß: Wie kann man helfen, warum tut das Kind sich so was an, warum hat er es nicht früher erzählt?

Bei Tina duldet es die Familie, keiner sagt was, keiner fragt. Wenn sie sich frische Wunden zugefügt hat, trägt sie langärmelige Kleidung. Einerseits, sagt sie, ärgert sie sich - "wie sie wegschauen können, schließlich ist man das eigene Kind" -, andererseits wollte sie nicht, dass ihre Eltern Bescheid wissen.

Steffi hat durch die Selbsthilfegruppe "Borderline und SVV Wien" den Entschluss gefasst, ihrer Mutter zu erzählen, dass sie sich verletzt. Die heute 17-Jährige zeigt ihrer Mutter ihre frische Schnitte, meist geht sie danach ins Krankenhaus.

Kein Selbstmordversuch

Beim Selbstverletzen gehe es darum, sich selbst zu helfen, erzählen die drei Betroffenen Chris, Steffi und Tina, um sich lebendig zu fühlen, um in die Realität zurückzufinden oder endlich schlafen zu können. Auch wenn Menschen, die an Borderline erkrankt sind oder an Depressionen leiden, oft Suizid-Gedanken haben, sei die Selbstverletzung per se ein Hilferuf und ein Hilfsmittel, sagt die Psychologin Melitta Fischer-Kern.

Mädchen und junge Frauen schneiden sich

Betroffen sind nach Schätzungen 1,5 bis zwei Prozent der österreichischen Bevölkerung, vor allem junge Menschen unter 30 Jahren, fünf von sechs sind Frauen. Frauen haben ein andersartiges Verhältnis zu ihren Müttern als Männer, erklärt die Psychologin Melitta Fischer-Kern diese Tatsache, sie können ihre Aggressionen auch schlechter nach außen transportieren als diese.

Therapie hilft

Selbstverletzung als Symptom einer psychischen Krankheit wie der Borderline-Störung habe gute Heilungschancen, sagt die Psychologin Melitta Fischer-Kern vom Wiener AKH. Nach ein bis zwei Jahren wird der Drang sich zu verletzen seltener, das bestätigen auch Betroffene wie Tina, Steffi oder Chris.

Hör-Tipp
Moment, Donnerstag, 18. Jänner 2007, 17:09 Uhr

Buch-Tipps
Kristin Teuber, "Ich blute, also bin ich", Centaurus, ISBN 382550090

Christoph Derschau, "So hin und wieder die eigene Haut ritzen ...", Maro Verlag Augsburg, ISBN 3875122488

Mathias Hirsch, "Der eigene Körper als Subjekt", Psychosozial-Verlag, ISBN 3932133331

Annegret Eckhardt, "Im Krieg mit dem Körper", rororo, ISBN 3499195089

Link
Selbsthilfegruppe Borderline und SSV Wien