Opulente Familiensaga von Ugo Riccarelli

Der vollkommene Schmerz

Ugo Riccarelli, 1954 in der Provinz Turin geboren, war lange Zeit schwer lungenkrank. Der Titel seines Romans verweist auf diese Zeit. 2004 erhielt Riccarelli für sein opulentes Familienepos den renommierten Premio Strega.

An Leitern geklammert, unter Eisenträgern liegend und über Zahnräder gebeugt, schraubte Ideale seinen Wunsch zusammen, der Bewegung eine unendliche Dauer zu verschaffen, etwas zu schaffen, was nie stillstand, was ewig und beständig für die Liebe war, die er für das Leben empfand, etwas, was die gleiche Kraft und die gleiche Hoffnung in sich barg, die vor ihm schon sein Großvater und sein Vater in der Utopie gesucht hatten.

Diese aus unendlich vielen Rädern und Gewichten bestehende Maschine - ein nie vollendetes Perpetuum mobile - steht für die kunstvoll verwobenen Erzählstränge, die das Epos Ugo Ricarellis zusammenhalten.

Romeo und Julia im 20. Jahrhundert

Der Roman, angesiedelt im ländlichen Süden der Toskana, beleuchtet über 100 Jahre im Leben zweier Familien. Da ist auf der einen Seite die zarte Bande der Witwe Bartoli mit dem Maestro, einem Lehrer mit anarchistischem Gedankengut, deren Liebe vier Kinder hervorbringt. Im krassen Gegensatz dazu: die nüchterne Welt des gerissenen Schweinezüchters und späteren Unternehmers Odysseus Bertorelli und seine dem Wahnsinn anheim fallende Psyche.

Anhand dieser unterschiedlichen Familiengeschichten zeigt Ricarelli die Welt der kleinen Leute im geeinten Königreich Italien bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Er erzählt, wie das Schicksal und auch der Fortschritt Tod bringende Gräben zwischen beiden Welten aufreißt, er erzählt aber auch von der Liebe, die gerade zwischen den Angehörigen der verfeindeten Familienclans einen Nährboden findet. Riccarelli verfolgt seine gegensätzlichen Charaktere durch eine Geschichte, die von sozialen und politischen Kämpfen, gewaltsamer Unterdrückung, Faschismus und Krieg bestimmt ist. Er erzählt von Idealisten und Pragmatikern, von Träumern und Geschäftemachern, von Gewinnern und Verlierern.

Beeindruckende Frauen

Doch vor allen Dingen beeindruckte den Maestro die Liebenswürdigkeit der Frauen in Colle. Nicht dass die Frauen bei ihm zu Hause nicht freundlich waren, doch sie wahrten in allen Lebenslagen eine Zurückhaltung, die fast schon an Widerspenstigkeit grenzte und sie in einer eigenen Welt isolierte, sogar dann noch, wenn sie Ehefrau oder Großmutter wurden. Die Frauen von Colle dagegen scheuten sich nicht, zu lächeln und mit bezauberndem Charme und Liebreiz das Wort an einen Fremden zu richten.

So sind es auch die Frauen, die in Riccarellis Roman zu Schlüsselfiguren werden, wie etwa die Protagonistin Annina, deren reales Vorbild Riccarellis Großmutter gewesen ist. Besonders eindrucksvoll ist auch die Beschreibung der Dorfhebamme, die noch im hohen Alter bei einer schweren Geburt assistiert und der werdenden Mutter durch einfühlsame Worte jegliche Verspannung nimmt.

Riccarelli ist ein Erzähler auf höchstem Niveau, ein Erzähler, der zu zeigen vermag, wie Zeiten und Landschaften sich verändern, während der vollkommene Schmerz eine Grundkomponente des menschlichen Lebens bleibt.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 5. Jänner 2007, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 7. Jänner 2007, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Ugo Riccarelli, "Der vollkommene Schmerz", aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger, Zsolnay Verlag 2006, ISBN 978-3552053878