Protokoll des Lebens in drei Höllen
Fallen lassen
Brigitte Schwaigers literarische Karriere wurde durch eine psychiatrische Erkrankung brutal abgebrochen. In ihrem jüngsten Buch beschreibt sie unprätentiös ihr Inneres, ihr soziales Umfeld und die institutionelle Verwaltung von "Geisteskrankheiten".
8. April 2017, 21:58
Brigitte Schwaiger war immer eine couragierte Autorin, die deklariert autobiografische Erfahrungen literarisch verfremdete und gesellschaftliche Missstände kritisierte. Schon ihr Erstling "Wie kommt das Salz ins Meer" verarbeitet persönliche Erlebnisse zu einer kritischen Darstellung von "Liebe" zwischen den Polen "Wärme" und "Kälte".
Das Buch wurde ein Bestseller, in dem sich zahlreiche Leserinnen wieder fanden; mit ihm begann eine mehrjährige literarische Karriere, mit all ihren Privilegien und Belastungen, die durch eine schwere psychiatrische Erkrankung brutal abgebrochen wurde.
Aufrichtige Innensicht
Schizophrenie, Depression, Borderline-Syndrom - die zyklisch wechselnden Diagnosen der Ärzte sind ein Spiegelbild der prinzipiellen Unkommunizierbarkeit ihrer Leidenszustände und gleichzeitig der gesellschaftlichen Unsicherheit im Umgang mit seelisch Erkrankten. Darüber lässt sich trefflich entspannt räsonieren, doch hier ist das Opfer eine allem Ungemach zum Trotze disziplinierte Schriftstellerin, die uns voll Zorn mit den ihr verbliebenen schriftstellerischen Mitteln - und dazu zählt die Gabe der klaren, präzisen Beobachtung - erzählt, wie man als Betroffene lebt.
Leben in der Hölle
Ihr bewusst schlicht gehaltener Bericht gibt uns keine Darstellung eines gigantischen Fantasmas, wie die legendären "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" des Senatsrates Schreber, der Freud zu seiner Theorie der Paranoia angeregt hat; er ist auch kein Versuch, den eigenen Wahn, der zur Tötung der Gattin geführt hat, intellektuell zu meistern, wie ihn der französische Philosoph Althusser unternommen hat. Brigitte Schwaiger hat ein unprätentiöses, aber unter die Haut gehendes Protokoll des Lebens in drei Höllen verfasst - ihrer inneren Hölle, der des sozialen Umfelds und schließlich der der institutionellen Verwaltung von so genannten Geisteskrankheiten in Wien.
Der Schrecken der Schrecken
Wie lebt man mit einer Antriebslosigkeit, die einen in die Verwahrlosung treibt, wie lebt man mit Panikattacken, die einen zu Hause festhalten? Wie meistert man den Spagat, dass man einerseits "Beziehungen aufrechterhalten" soll und sich gleichzeitig seinen Mitmenschen nicht mehr verständlich machen kann, zur Körperpflege außerstande ist und am Ende nur mehr "nervt", so dass die Besucher ausbleiben? Und schließlich: Wie lebt man in jener absoluten Hölle, in der diese Krankheiten verwaltet werden, im psychiatrischen Krankenhaus der Gemeinde Wien auf der Baumgartner Höhe? Der Name Steinhof ist verpönt, man soll jetzt Otto-Wagner-Spital sagen.
Namen sind Schall und Rauch, für Brigitte Schwaiger ist das der "Schrecken der Schrecken, Schrecken aller Schrecken. Baumgartner Höhe ist Endstation, hier hört die Würde, ein Mensch zu sein, auf."
Wallraff ohne Rückfahrkarte
So kann man "Fallen lassen" auch lesen: als eine beklemmende Sozialreportage, wie Günther Wallraffs Gastspiel in der Redaktion der "Bildzeitung" oder als Türke Ali in "Ganz unten". Nur: Wallraff hatte eine Rückfahrkarte und was er schilderte, war dem lesenden Publikum neu. Die Ökonomie der öffentlichen Aufmerksamkeit folgt undurchschaubaren Regeln. Dass auch am Steinhof einer der viel besprochenen "Pflegenotstände" herrscht, weiß irgendwie ein jeder, doch dieser "Notstand" hat es einfach nicht geschafft, auf die öffentliche Agenda zu geraten.
Es ist erstaunlich, wie harthörig hier die Öffentlichkeit ist, erstaunlich auch, wie selbstgerecht die Verantwortlichen. Ist das nicht seltsam: kleinste Start-Ups müssen ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen getrennte Waschräume anbieten - aber am Steinhof mit seinem speziellen Klientel gilt das als unmöglich.
Verlässt eine Frau im Nachthemd das Frauenschlafzimmer, stößt sie zusammen mit einem aus dem nebenan liegenden Männerzimmer torkelnden unfrisierten halbnackten Mann. Speichel rinnt ihm von den Lippen, Haar nach allen Seiten abstehend, es ist kein Pfleger da, wenn einer aufsteht und zur Toilette wankt.
Wider die öffentliche Schande
Da leben Männer und Frauen, Depressive und Aggressive, Schizophrene, Paranoiker und Heroinsüchtige auf engem Raum, junge und alte, Angehörige verschiedener Nationalitäten in einer Situation, die immer wieder - so Schwaiger - "Missverständnisse und Streit, sogar Androhung von Gewalt und Gewalttätigkeit" produziert.
Die Vorstellung, dass sich eine Insassin des Steinhofs damit tröstet, dass Juden in Konzentrationslagern mehr hätten leiden müssen ist unerträglich - jener Steinhof, den Brigitte Schwaiger schildert, ist eine öffentliche Schande. Das waren auch die Schlachthöfe Chicagos, die Upton Sinclair in seinem gut recherchierten Roman "Der Sumpf" beschrieben hat. Sinclairs Buch hat die Öffentlichkeit und die Behörden aufgerüttelt - man kann nur hoffen, dass dieser Potest eines prominenten Opfers eine ähnliche Wirkung zeitigt.