Was bleibt von der Geschichte, wie wir sie kennen?

Der Schleier der Erinnerung

Der so genannte Canossagang König Heinrich des Vierten hat vielleicht nie stattgefunden. Der Heilige Benedikt von Nursia hat vermutlich nie gelebt. Das ist erst der Anfang einer Revision der Geschichte nach Erkenntnissen der Gedächtnisforschung.

Es ist kein besonders schmeichelhaftes Zeugnis, das Psychologie und Kognitionswissenschaften unserem Erinnerungsvermögen ausstellen. Wir verzerren und verdrehen, übertreiben und erfinden, vermischen und lassen weg - schon unbewusst, ganz zu schweigen von bewusster Manipulation.

Das Gedächtnis ist alles andere als ein wohlgeordnetes Archiv, in dem Erinnerungen unverändert aufbewahrt werden - sondern ein aktiver Apparat, der Erinnerungsinhalte flexibel an die Bedürfnisse der Gegenwart anpasst.

Die Fehler und Fallen des Gedächtnisses

Der renommierte Historiker Johannes Fried, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt, führt in seinem Buch "Der Schleier der Erinnerung“ 18 so genannte "Verformungsfaktoren“ an - Mechanismen, wie das Gedächtnis Erinnerungsinhalte verändert. Und fordert seine Fachkollegen dazu auf, die Fehler und Fallen des Erinnerns bzw. die Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung in ihrer Arbeit zu berücksichtigen.

Widersprüche in Quellen sollten nicht "wegharmonisiert“ werden, wie es bisher oft Praxis war - Johannes Fried fordert stattdessen eine "Umkehr der Beweislast“. Erst wenn alle Zweifel ausgeräumt seien, sollten Ereignisse als faktisch anerkannt werden.

Abschied von Legenden

Für 2007 hat Johannes Fried eine Publikation angekündigt, in der er eine der bekanntesten Episoden des Mittelalters neu bewerten will: den sprichwörtlich gewordenen Canossagang Königs Heinrich IV. zu Papst Gregor VII.

Einige Eckpunkte des frühen Mittelalters sind schon durch bisherige Erkenntnisse in Frage gestellt: Der Heilige Benedikt von Nursia, auf den sich der Benediktinerorden beruft, dürfte nie gelebt haben, genauso wenig wie die Heilige Barbara oder der Heilige Christopherus, die inzwischen aus dem offiziellen Heiligenkalender gestrichen wurden. Auch die berühmte Kaiserkrönung Karls des Großen hat wahrscheinlich nicht so stattgefunden, wie bisher angenommen.

Geschichte muss umgeschrieben werden

Für sein Buch "Der Schleier der Erinnerung“ hat Johannes Fried im Oktober 2006 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhalten. Die Reaktionen in Fachkreisen auf Frieds Herausforderung waren dagegen eher zurückhaltend.

Der Mittelalterforscher Lothar Kolmer an der Universität Salzburg meint zu wissen, warum: "Das bedeutet, dass die herkömmliche Geschichte, so wie wir sie über mehrere Generationen als Historiker geschildert haben, nicht mehr haltbar ist“, stellt Kolmer fest. "Wir stehen vor der Aufgabe, wesentliche Teile der Geschichte neu zu schreiben - haben aber zu wenige Informationen, sie richtig schreiben zu können.“

Nicht nur im Mittelalter

Das Mittelalter ist von der Unzulänglichkeit der Erinnerung besonders betroffen - denn es war eine weitgehend mündliche Kultur; ein großer Teil auch der schriftlichen Zeugnisse beruht auf vorhergehender mündlicher Überlieferung. Und für viele der Berichte gibt es keine Kontrollmöglichkeit in Form paralleler Überlieferung.

Doch auch für andere Teilgebiete der Geschichtswissenschaft stellt sich die Frage, wie mit Erinnerungen von Zeitzeugen umzugehen ist. So stand und steht etwa die "Oral history“ vor der Notwendigkeit, für den Umgang mit den bewussten und unbewussten Verformungen des Gedächtnisses Strategien zu entwickeln, wie der Doyen der deutschsprachigen Oral history Lutz Niethammer und sein österreichischer Fachkollege Ernst Langthaler erzählen.

Doch noch mehr als um das Finden einer historischen Wahrheit geht es dabei um die subjektiven Sichtweisen selbst: wie die Befragten Geschichte erleben und verarbeiten - wiederum Stoff für die Gedächtnisforschung.

Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 21. Dezember 2006, 19:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Johannes Fried, "Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik“, C H Beck Verlag 2004, ISBN 3406522114

Hans Markowitsch und Harald Welzer, "Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte der interdisziplinären Gedächtnisforschung“, Verlag Klett-Cotta 2006, ISBN 3608944222

Hans Markowitsch und Harald Welzer, "Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Verlag Klett-Cotta, 2. Auflage 2006, ISBN 3608944060

Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall, "Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“, Verlag S. Fischer 2002, ISBN 3596155150

Links
Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung - Laudatio anlässlich der Verleihung des Sigmund Freud-Preises an Johannes Fried
Benediktinerabtei Ettal - Papst Gregors des Großen Lebensbeschreibung des Benedikt von Nursia