Diagnose: Knochentuberkulose

Vernarbte Herzen

"Vernarbte Herzen" erzählt die Geschichte des 21-jährigen Emanuel, der an Knochentuberkulose erkrankt und fast ein Jahr im Sanatorium verbringt. Im Gegensatz zu seinem Romanhelden überlebte der Autor selbst die Krankheit nicht, er starb 1938.

M. Blechers Roman "Vernarbte Herzen" beginnt mit einer Erkenntnis. Es ist eine wissenschaftliche, medizinische Erkenntnis, die der Arzt dem Helden des Romans sachlich vor Augen führt: Der 21-jährige Emanuel, der aus seiner Heimat Rumänien nach Paris gekommen ist um Chemie zu studieren, leidet an der Pottschen Krankheit, Knochentuberkulose an der Wirbelsäule. Etwas an sich Festes, ein Knochen, verschwindet langsam im Körper des jungen Mannes und dieses merkwürdige Verschwinden besagt, dass er eine Krankheit in sich trägt, die zum Tode führen kann.

Aber die Wissenschaft ist nicht nur der Überbringer schlechter Nachrichten, sondern sie weiß auch Rat zu geben. In am Atlantik gelegenen Kurort Berck gäbe es ein Sanatorium, das sich auf diese Art Krankheit spezialisiert habe. Berck, "das ist die Rettung", sagt der Arzt.

Surreale Szenerie im Sanatorium

Emanuel reist sofort nach Berck und sieht, wie diese Rettung tatsächlich aussieht. Die an den Knochen erkrankten Patienten werden in Gipskorsetts geschnürt und können sich monatelang nicht bewegen. Doch die Sanatoriumsleitung weiß, wie man einer wohl situierten Klientel Annehmlichkeiten bereitet. Im Speisesaal liegen die Patienten neben den Tischen wie bei römischen Gelagen, manche, denen man bloß die Beine eingegipst hat, sitzen in seltsam steifer Haltung aufrecht. Alle sind sie gut gekleidet, als wäre man auf Erholungsurlaub am Meer. Eine surreale Szenerie ist das, die Emanuel völlig verblüfft.

Im Speisesaal waren die Traumelemente und die Wirklichkeitselemente in eine solche Gleichzeitigkeit geraten, dass Emanuel einige Sekunden lang das Gefühl hatte, sein Bewusstsein sei total zerfallen. (...)Was hatte dies alles zu bedeuten? Lebte er? Träumte er? In welcher Welt, in welcher Realität trugen all diese Dinge sich zu?

Emanuel glaubt angesichts der surrealen Szenerie, dass sein Bewusstsein zerfalle, dabei ist es seine Wirbelsäule, die sich langsam aufzulösen beginnt. Das ergibt eine Art Spiegelverhältnis. Das Bewusstsein zeigt auf den kranken Körper und der kranke Körper gibt zu erkennen, dass das Bewusstsein unter den gegebenen Verhältnissen keineswegs als gesund anzusehen sei.

Literarisches Spiegelkabinett

Prinzipiell könnte man sagen, dass M. Blecher in seinem Roman "Vernarbte Herzen" ein literarisches Spiegelkabinett aufbaut. Die wissenschaftliche, medizinische Erkenntnis der Krankheit führt zu einer Behandlungsmethode, die das Leben im Sanatorium wie eine Traumsequenz erscheinen lässt. Hinter der realen Gemeinschaft der Kranken lauert eine ganz andere Wirklichkeit: der Tod. Ihm sind die Kranken im Sanatorium näher als ihrem eigenen, einstmals gesunden Körper.

Diese surreale, auf den Tod hin gerichtete Realität ist kaum zu ertragen. Mit der Zeit lernt Emanuel im Sanatorium viele Leidensgenossen kennen, die dieser Wirklichkeit zu entfliehen suchen. Alkohol ist da ein probates Mittel und so werden des Nachts heimlich Feste organisiert, auf denen die lebenden Toten das Leben feiern, das ihnen unter den Händen entgleitet.

Kampf gegen die Narben

Emanuel geht noch einen Schritt weiter. Er lernt Solange kennen. Als ehemalige und geheilte Patienten des Sanatoriums lebt sie in Berck und besucht manchmal die Kranken. Beide verlieben sich ineinander, doch dieses Verhältnis entwickelt sich zur reinen Qual. M. Becher schildert ohne falsche Scham Emanuels irrwitzige Versuche, sich Solange sexuell zu nähern. Letztlich erstirbt seine Lust in der in Gips eingekerkerten Männlichkeit. Emanuel wird bitter, sarkastisch gegen sich selbst und gegen seine Geliebte. Aber erst von einer Mitpatientin erfährt er, dass dies der normale Gang der Krankheit sei. Isa verwendet hierfür den medizinischen Begriff "vernarbtes Gewebe", Haut, die sich auf vernarbten Wunden bildet und unempfindlich ist gegen Kälte, Wärme oder für Berührung.

Die Nähe zum Tod macht hart. Emanuel spürt, wie sein Herz sich mehr und mehr in vernarbtes Gewebe verwandelt. Doch er kämpft dagegen an und somit auch gegen seine Krankheit. Am Schluss des Romans geht Emanuel als Sieger hervor: Fast vollständig geheilt verlässt er Berck und das Sanatorium. Doch genau dieses Ende schnürt einem die Kehle zu, denn der Roman "Vernarbte Herzen" ist weitgehend ein autobiografischer Text von Max L. Blecher, der sich als Autor M. Blecher nannte.

Mit 19 Jahren erkrankte er an Knochentuberkulose und konnte nur noch im Bett liegend schreiben und mit der Außenwelt kommunizieren. Doch anders als bei seiner Romanfigur Emanuel halfen die vielen Aufenthalte in Sanatorien nicht. Blecher verstarb, keine 30 Jahre alt, an seiner Krankheit. Mit dem frühen Tod M. Blechers ist uns wahrscheinlich ein Autor von europäischem Rang verloren gegangen, der mit seiner suggestiven Prosa noch einiges zu sagen gehabt hätte.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
M. Blecher, "Vernarbte Herzen", aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner, Suhrkamp Verlag, ISBN 3518223992