Zu Unrecht vergessen

"I Hear America Singing"

In den 1950er Jahren hat vermutlich niemand außer Woody Guthrie und Pete Seeger so maßgeblich zur Popularisierung der Folk-Musik beigetragen, wie Bob Gibson, dessen Leben 1953 durch einen Nachmittag mit Pete Seeger völlig verändert wurde.

Bob Gibsons Leben wurde 1953 durch einen Nachmittag mit Pete Seeger völlig verändert. Vom Charme der Folkmusik bezirzt, kauft sich der 22-jährige Geschäftsmann ein Banjo, einen Stapel Folk-Platten und lernt das Instrument im Selbst-Studium spielen.

Als er es beherrscht, kündigt er seinen Marketing- und Vertriebsjob und tingelt durch die Vereinigten Staaten, um sich das reichhaltige musikalische Erbe anzueignen. Für Bob Gibson ist Shel Silversteins “I Hear America Singing" jene dramatische Hymne über populäre Musik, die er zeitlebens selbst gerne geschrieben hätte. Der Liedtitel verweist auf Walt Whitmans gleichnamiges Gedicht und ist eines von zahlreichen Zitaten, mit denen Liedtexte aus unterschiedlichen Lebensphasen und -bereichen zu einem Festgesang verdichtet werden, der ein Lebenspanaroma von der Wiege bis zur Bahre skizziert.

Die Tradition bewahrt

“I Hear America Singing" ist zugleich Silversteins Verbeugung vor seinem langjährigen Künstlerfreund Gibson, der sich bei seiner Amerikaerkundung die unterschiedlichen Traditionen und Spielarten der Folk-Musik erarbeitet hat. Gibson hat die Tradition bewahrt, indem er Lieder gesammelt und an die Nachwelt weitergegeben hat.

Er hat aber auch alte Folkstandards neu interpretiert und neue Folksstandards gesetzt. Er hat Lieder gesucht, gefunden, textlich und musikalisch überarbeitet und die bewährten Standards und seine eigenen Lieder in Schulen, Clubs, Kabaretts und auf Kreuzfahrtschiffen präsentiert.

Legendärer Chicagoer Folk-Club

Seine Erkundungsrundreise endet 1956 im neu gegründeten Chicagoer Folk-Club “Gate of Horn", der ihm den idealen Rahmen für seine Auftritte bietet.

Das vom legendären Albert Grossman nach Pariser Vorbild gegründete Live-Musik-Kellerlokal entwickelt sich dank Gibsons charismatischer Bühnenpräsenz rasch zum Treffpunkt der Chicagoer Folk-Szene.

Bedeutung unterschätzt

Gibsons Bedeutung wird bis heute unterschätzt, da er zwar aus zahlreichen Liedvarianten seine eigenen Versionen und Arrangements erstellt, die er aber anfangs nicht ausdrücklich als sein Werk deklariert.

Den Blues-Standard “C.C. Rider" etwa hat Gibson 1958 völlig runderneuert. Da Gibson die Mehrzahl jener Lieder, die er textlich und musikalisch adaptiert hat, nicht urheberrechtlich schützen lässt, muss er erleben, dass andere seine Bearbeitungen als ihre ausweisen, obwohl er diese Jahre früher selbst auf Platte aufgenommen hat.

Seine Versionen von “All My Trials", “John Riley", “Michael, Row The Boat Ashore", “Virgin Mary Had A Lamp" und “Wayfaring Stranger" werden von zahlreichen Musikern im Glauben nachgespielt, es handle sich um echte Folk-Traditionals, weshalb sie Gibson weder als Autor nennen, geschweige denn Tantiemen zahlen.

Drogenprobleme

Gibsons weitere Karriere wird durch gravierende Drogenprobleme vereitelt, die er seit Anfang der 60er Jahre immer schlechter in den Griff bekommt. Er scheut den zunehmenden Erfolg. Auftritte vor großen Publikumsscharen ängstigen ihn, da er im Herzen ein Club- und Kaffeehaus-Musiker geblieben ist.

Er flüchtet zu Alkohol und Drogen, die ihm schon als Halbwüchsigem Trost gespendet haben. In Chicago ist er auf Speed, in New York schießt er Heroin, was ihn immer wieder wegen Drogenmissbrauchs ins Gefängnis bringt.

Comebackversuche

Mehrmals versucht er zwischen 1969 und 1978 seine Karriere bzw. was davon noch übrig geblieben ist, zwischen Entziehungskuren und Drogensucht fortzusetzen. Auf seiner “Bob Gibson" genannten Comeback-LP wird er 1970 zwar von den Folk-Rock-Stars David Crosby, Chris Hillman und Roger McGuinn unterstützt, aber Wirkung und Erfolg lassen dennoch zu wünschen übrig.

Der nächste Comebackversuch misslingt 1974 mit dem Album “Funky in the Country".

Seine intensivste künstlerische Phase

1978 überwindet Gibson endlich seine selbst zerstörerische Drogensucht endgültig. Nun beginnt seine intensivste künstlerische Phase. Er nimmt gemeinsam mit Hamilton Camp das Album “Homemade Records" auf. 1980 folgt das Solo-Album “Perfect High". Er produziert fremde und veröffentlicht eigene Alben und tritt gemeinsam mit Tom Paxton auf. Ihr Duo wird Mitte der 80er Jahre durch Anne Hills zum Trio “Best of Friends" erweitert.

Gesundheitlich machen Gibson ab Ende der 80er Jahre neurologische Krankheitssymptome zu schaffen. Sie werden erst 1993 als “Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom" diagnostiziert. Diese seltene Erkrankung ähnelt Parkinson, verläuft aber binnen ein paar Jahre tödlich.

Letztes Album

1995, ein Jahr vor seinem Tod, nimmt Gibson, der nur noch Singen, aber wegen seiner tauben Hände selbst keine Instrumente mehr spielen kann, das im doppelten Sinn gelungene Album “Makin’ A Mess" auf, das ausschließlich Lieder von Shel Silverstein enthält. Dieses besonders vergnügliche Abschiedsalbum belegt, dass sich Gibson von seiner tödlichen Krankheit zwar physisch, aber nicht psychisch unterkriegen ließ.

Den Tod vor Augen lädt Gibson 1996 Familie und Freunde zu einer Abschiedsparty ein, die ein bewegendes Fest wird. Eine Woche später, am 28. September 1996, stirbt er im Alter von 64 Jahren.

Text: Andreas Weigel

Hör-Tipp
“Spielräume Spezial”, Sonntag, 3. Dezember 2006, 17:10 Uhr

Links
Wikipedia - Bob Gibson
about.com - Walt Whitman , “I Hear America Singing”
Bob Gibson