Erkundungen im ärmsten Land der Welt
Niger
Auf dem Index der wirtschaftlichen Entwicklung liegt Niger auf Platz 177. Für die UN-Statistiker welche Daten zu Lebenserwartung und Bildungsmöglichkeiten, zu Einkommen und Gesundheitsversorgung auswerten, gilt Niger damit als das ärmste Land der Welt.
8. April 2017, 21:58
"Ich arbeite seit 20 Jahren im Reisebüro, aber nach Niger wollte noch nie jemand!" Niger, das erfahre ich schon bei den Reisevorbereitungen, ist praktisch unbekannt. George W. Bush allerdings, obwohl im Allgemeinen nicht für seine Geografie-Kenntnisse berühmt, wusste etwas über Niger.
Er wusste, dass es dort Uran gibt und dass Saddam Hussein versucht hätte, sich etwas davon zu beschaffen. Die Nigrer ärgerten sich zwar über Bushs Uran-Lüge, freuten sich jedoch, dass ihr Land einmal nicht mit dem südlichen Nachbarstaat Nigeria verwechselt wurde.
Text-Bild-Schere
Aus Niger stammt auch die berühmteste Kinderhand der Welt. Es ist die abgemagerte Hand eines einjährigen Kindes, die sich auf den Mund seiner Mutter drückt. Das Bild ging als bestes Pressefoto des Jahres 2005 um die Welt und sollte die so genannte Hungersnot in Niger symbolisieren. Doch das Bild, das die internationalen Medien von dem Land am Südrand der Sahara vermittelten, war falsch.
Hohe Kindersterblichkeit, hohe Geburtenrate
Egal, ob die Ernte gut oder schlecht ausfällt, jedes Jahr sterben die Kinder in Niger. Sie sterben an Armut, jeden Tag. Jeden Tag 500. Niger hat die höchste Kindersterblichkeit weltweit, aber gleichzeitig auch die höchste Geburtenrate, durchschnittlich bringt jede Frau acht Kinder zur Welt. In zwanzig Jahren verdoppelt sich die Bevölkerung. Da die Wirtschaft langsamer wächst als die Bevölkerung, werden die Menschen, pro Kopf betrachtet, immer ärmer.
Mich hat die Zahl 177 dazu gebracht, nach Niger zu reisen. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung liegt Niger auf Platz 177 und damit an letzter Stelle. Für die Statistiker der Vereinten Nationen, welche Daten zu Lebenserwartung und Bildungsmöglichkeiten, zu Einkommen und Gesundheitsversorgung auswerten, gilt Niger damit als das ärmste Land der Welt.
Dörfliche Strukturen
Die Hauptstadt Niamey wirkt mit ihrem dörflichen Charakter sehr beruhigend. Kaum hohe Gebäude, nur die Hauptstraßen sind geteert. Sobald man in eine Nebenstraße einbiegt, holpert das Auto durch den Sand. Mitten in der Stadt stehen Strohhüttensiedlungen, in welchen die Bewohner abends Petroleumlampen und Holzfeuer zum Kochen anzünden.
In den ärmeren Vierteln fahren Wasserverkäufer mit Handkarren von Haus zu Haus und liefern Trinkwasser in gebrauchten Speiseölkanistern. Man kennt sich, hat Zeit für einen Tratsch am Straßenrand, auch als Weißer kann man nach einem Bier im Gartenrestaurant unbesorgt zu Fuß zu seinem Quartier zurückkehren.
Biblische Plagen
An den großen Kreuzungen verkaufen junge Männer Zigaretten, Bonbons, Batterien aus China und Telefonwertkarten fürs Handy. Das Festnetzzeitalter hat man in Niger übersprungen. Für zwölf Millionen Einwohner gibt es nur 24.000 Anschlüsse im ganzen Land, aber bereits 150.000 Handys. Die Dörfer erinnern mich mit ihren Lehmhäusern an die Kulissen einer Bibelverfilmung. Tatsächlich gleichen die Lebensbedingungen den Zeiten des Alten Testaments. Schulen oder Gesundheitsstationen sind eine Seltenheit. Das Wasser muss mühsam vom Brunnen herbeigeschleppt werden. Und wenn er austrocknet, karrt man es kilometerweit auf Eselwägelchen heran.
Im 21. Jahrhundert werden die Dörfer in Niger noch immer regelmäßig von biblischen Plagen wie Hunger, Dürre oder Heuschrecken heimgesucht. Der Unterschied zur Zeit der Propheten besteht darin, dass heute bei Katastrophen, die es in die Schlagzeilen der Weltpresse schaffen, Heerscharen internationaler Helferinnen und Helfer als moderne Rettungsengel herbei fliegen. "Plumpynut" heißt das Manna der Neuzeit, therapeutische Nahrung für Unterernährte - eine Erdnusspaste.
Geringe Anbauflächen
Dass Niger so wenig entwickelt ist, liegt einerseits an den geografischen Voraussetzungen. Das Land ist 15 Mal so groß wie Österreich, doch nur auf einem schmalen Streifen ganz im Süden kann man Ackerbau betreiben. Andererseits bleiben viele Möglichkeiten ungenutzt.
Der Niger fließt auf einer Strecke von 400 Kilometern durch das Land. An seinen Ufern könnte man ganzjährig Gemüse oder sogar Reis anbauen. Für die Geschäftsleute ist es jedoch profitabler, Dosenerbsen aus Frankreich und billigen Reis aus Thailand zu importieren und für teures Geld an ihre Landsleute zu verkaufen.
Kaum Tourismus
Agadez bildet den Ausgangspunkt für Wüstenreisen und ist der einzige Ort des Landes, den gelegentlich Touristen aufsuchen. Erst beim dritten Versuch gelingt es mir, die Moschee zu besichtigen, die größte Touristenattraktion der Stadt. Zweimal war der Mann mit dem Schlüssel - auch nachdem ich längere Zeit gewartet hatte - nicht aufgetaucht. Von der Plattform des Minaretts bietet sich mir eine herrliche Aussicht auf die Stadt und die Wüste.
Ich kann auch beobachten, wie eine Gruppe von zwanzig Touristen vergeblich nach einem offenen Eingang zur Moschee sucht. Der Moscheewächter hat die Tür zum Hof von innen verschlossen. Das Eintrittsgeld der Gruppe hätte ein Vielfaches vom Wochenlohn des Wächters ausgemacht. Nun marschiert die Gruppe unverrichteter Dinge davon.
Chronischer Bildungsmangel
Den meisten Menschen in Niger mangelt es an Bildung, um die Chancen zu erkennen. In der Wüste besuche ich eine Nomadenschule. Obwohl die größeren Kinder bereits einige Jahre auf Französisch unterrichtet werden, endet die Konversation mit ihnen, sobald der Lehrer nicht mehr die passenden Antworten souffliert. Die Jüngeren lernen die Rezitationen so gut es geht auswendig, haben aber keine Ahnung, wovon sie sprechen. Wie Papageien plappern sie alles nach. Dabei brennen die Nomadenkinder mit wachen Sinnen darauf, etwas zu lernen. Doch der 19-jährige Lehrer ist mit ihnen völlig überfordert. Er weiß nicht, wie er den Kindern, die nur Tamaschek sprechen, etwas auf Französisch beibringen soll.
Zwischen dem Alltag der Kinder und dem, was sie in der Schule lernen, herrscht eine große Kluft. In Biologie z. B. erfahren sie einiges über französische Pflanzen, die sie vermutlich nie sehen werden, doch über die Pflanzen, die auf dem Schulweg wachsen, lernen sie nichts. Nicht einmal die Namen, es sind nur "des plantes sauvages" - wilde Pflanzen.
Auch zwei Drittel der Parlamentarier sind Analphabeten. Über die Kompetenz der Volksvertreter erzählt man sich folgende Anekdote: Ein älterer Abgeordneter, der kaum Französisch versteht, döst während der Budget-Debatte im Parlament vor sich hin. In kurzen Abständen dringt das Wort "budget" an sein Ohr. Trotz Dämmerzustand und mangelhafter Französischkenntnisse erahnt der Abgeordnete, dass es in Zusammenhang mit Geld verwendet wird. Plötzlich meldet er sich erzürnt zu Wort. "Jetzt reden wir hier schon seit Stunden über diesen Monsieur Budget. Wenn er unbedingt Geld braucht, genehmigen wir es ihm doch endlich und reden über etwas anderes!"
Die Reise nach Niger wurde durch das Hans-Nerth-Feature-Stipendium, das jährlich ausgeschrieben wird, ermöglicht.
Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 18. November 2006, 9:05 Uhr
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