Humanismus im Zeitalter der Globalisierung
50 Jahre Salzburger Nachtstudio
Am 6. November 1956 wurde das erste "Salzburger Nachtstudio" gesendet. Seit damals ist dieser Dinosaurier unter den Wissenschaftssendungen wöchentlich "On Air". In diesen 50 Jahren hat sich die Sendung mehrmals gehäutet und neu positioniert.
8. April 2017, 21:58
Einleitungsworte von Alexander Wrabetz und Reaktionen
Das Fundament, auf dem das "Salzburger Nachtstudio" steht, wurde vor 50 Jahren, am 6. November 1956, vom Wissenschaftsredakteur und späteren Landesstudio-Intendanten Paul Becker in Salzburg gelegt. Geprägt hat es etwas mehr als 20 Jahre - von 1963 bis 1984 - der wortgewaltige Oskar Schatz. Im Sommer 1965 konnte er auch sein Konzept der "Humanismusgespräche" durchsetzen. Von diesem Zeitpunkt an bis 2001 war es eng mit dem "Salzburger Nachtstudio" verbunden. Der ORF, das Landesstudio Salzburg, üblicherweise Vermittler von Forschungsergebnissen im außeruniversitären Feld, war zum Veranstalter geworden.
Welchen Herausforderungen sich ein neuer Humanismus im Zeitalter der Neurowissenschaften zu stellen hat, darüber hat der an der Universität Duisburg-Essen lehrende Philosoph Dieter Sturma anlässlich der Jubiläumsfeier des Salzburger Nachtstudios - dem Fest der Dialektik - referiert. Hier ein Auszug aus seiner Rede.
Die neurowissenschaftliche Herausforderung
"Das traditionelle Selbstverständnis, in dem immer auch ein humanistischer Zug wirksam ist, wird in zwei großen Debatten der letzten Jahre zur Ersetzbarkeit des Menschen und zur Willensfreiheit einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. Anlass der Debatten sind technische Fortschritte auf den Gebieten der Künstliche-Intelligenz-Forschung, der Robotik sowie der Neurowissenschaften.
In der Ersetzbarkeitsdebatte geht es um Überlegungen zu menschlicher Intelligenz und zu kulturellen Ausrichtungen für die nähere und weitere Zukunft. Die Willensfreiheitsdebatte thematisiert dagegen die Grundlagen menschlicher Einstellungen und Verhaltensweisen. Vor allem im Verlauf der Willensfreiheitsdebatte sind weit reichende Vorschläge zur Revision des Menschenbildes gemacht worden, die sich auf Interpretationen neurowissenschaftlicher Entdeckungen und Experimente - vorzugsweise auf die von Benjamin Libet - stützen.
Zündstoff erhält die Debatte durch die neurowissenschaftlichen Selbstinterpretationen sowie die damit einhergehenden Forderungen nach einer Revision des Menschenbildes. Hierin besteht die Herausforderung der Neurowissenschaften. Die neurophilosophischen Ansätze ziehen aus neurowissenschaftlichen Experimenten den Schluss, dass die Annahme menschlicher Freiheit und Verantwortung grundlos und Selbst- wie Welterfahrungen einer Person letztlich nichts anderes als Konstruktionen ihres Gehirns seien.
Die neurowissenschaftlichen Freiheitskritiker gehen davon aus, dass das Gehirn Handlungen unbewusst einleite. Sie deuten diesen Umstand so, dass herkömmliche Annahmen zu Selbstbewusstsein, Willensfreiheit und Verantwortung von Personen zu korrigieren und entsprechende Konsequenzen für die Rechtsprechung zu ziehen seien. Personen seien für ihre Entscheidungen und Handlungen nicht ursächlich verantwortlich zu machen, weil deren Zustandekommen von neuronalen Mikromechanismen bestimmt werde, die auch die Illusionen von Selbstbewusstsein und Handlungsurheberschaft hervorriefen. Der Vorwurf, Personen hätten im Falle von Verfehlungen auch anders handeln können, erweise sich aus neurowissenschaftlicher Sicht als unbegründet. Grundlage dieser Einschätzungen sind Berichte aus der 'Sicht des Gehirns', denen zufolge uns Verschaltungen festlegen.
Personale Einstellungen und Vorgänge können nicht umstandslos auf neuronale Mikromechanismen bezogen werden. Menschliche Erfahrung ist in der Lebenswelt eingebettet und vollzieht sich nicht unabhängig von ihr. Die neurophilosophischen Szenarien berücksichtigen nicht den Zusammenhang von Körper, Bewusstsein, Handlung und Lebenswelt. Sie übersehen vor allem den konstruktiven Zug ihrer Bewusstseinsmodelle, mit dem ein Element aus diesem Zusammenhang isoliert und mit einem Primat versehen wird. Die starken deterministischen Ausdeutungen tragen nicht dem Sachverhalt Rechnung, dass Tatsachen und Theorien im Verhältnis wechselseitiger Unterbestimmung zueinander stehen.
Ereignisse können wissenschaftlich niemals in allen ihren Bestimmungen erfasst werden. Theorien interpretieren immer nur bestimmte Aspekte der Wirklichkeit und müssen aus konstruktiven Gründen andere Aspekte ausklammern oder unberücksichtigt lassen. Die Sprache, in der sie formuliert werden, hat weder die syntaktischen und semantischen Mittel, die Welt der Ereignisse insgesamt zu erfassen, noch das Potenzial für die eigene Interpretation. Um etwas über Zustände und Ereignisse herausfinden zu können, muss man mit ihnen auf dem Wege von Annahmen und Experimenten interagieren - und genau das tun die Neurowissenschaftler in ihren Experimenten. Letzte Antworten zu der Frage, was wir sind, lassen sich auf diese Weise aber nicht gewinnen, und der Großteil der Neurowissenschaftler versucht das auch gar nicht."
Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 15. November 2006, 21:01 Uhr
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