Beklemmende Geschichte eines Gedächtnisverlustes

Kommt ein Mann ins Zimmer

Die Vorstellung, sich wieder zu finden als jemand, der sein Gedächtnis verloren hat, weckt die Ahnung einer unbeschreiblich großen Einsamkeit,. Diese Erfahrung steht im Mittelpunkt des Romans der amerikanischen Autorin Nicole Krauss.

Die Vorstellung, sich wiederzufinden als jemand, der sein Gedächtnis verloren hat und der weiß, dass er es verloren hat, ist mehr als beängstigend. Sie weckt die Ahnung einer unbeschreiblich großen Einsamkeit, die kaum reduzierbar ist, weder durch Handlungen noch durch Begegnungen. Diese Erfahrung steht im Mittelpunkt des Romans der amerikanischen Autorin Nicole Krauss.

Ein sechsunddreißig-jähriger Mann wird in der Wüste bei Las Vegas gefunden, und zwar, wie es im Text heißt, "zerfleddert wie eine Krähe". Es handelt sich dabei um den Literaturprofessor Samson Greene, der aufgrund eines Gehirntumors die letzten vierundzwanzig Jahre erinnerbaren Lebens einbüßt. Als er einige Wochen nach der Operation das Krankenhaus verlässt und mit seiner Frau Anna nach New York zurückkehrt, ist da kein altes Leben mehr, das er teilen könnte, nicht einmal etwas, das ihm das Gefühl gäbe, ein Fremder unter Vertrauten zu sein.

Das erste Drittel

Samson kann lediglich seine ersten zwölf Jahre aufrufen, seine Mutter, von der er nicht mehr weiß, dass sie schon gestorben ist, und seinen Großonkel Max. Notgedrungen sind ihm diese Menschen näher und lebendiger als seine Frau, die ihn liebt, aber nicht mehr zu ihm durchdringt. Wie sollte sie auch? Das ist die Ausgangslage für einen Neuanfang, den Samson setzen muss, weil das Alte nicht mehr gilt. Er zieht aus, wird seine Frau von nun an kaum noch sehen, und eines Nachts, ausgerechnet nach Silvester, erreicht ihn der Anruf eines Gehirnforschers, der ihn zu sich in die Wüste Kaliforniens einlädt, um an einer großen Sache der Wissenschaft teilzuhaben.

Spätestens an dieser Stelle kündigt sich etwas vom kommenden Unheil an. Man erahnt, dass das Anliegen, mit dem Samson nach Kalifornien gelockt wird, möglicherweise fragwürdig ist - skrupellos gegenüber dem Glauben, dass ein Mensch mehr ist als die Summe seiner biologischen Gegebenheiten und seiner damit verbundenen Instrumentalisierbarkeit. Und tatsächlich! Was später in der Wüste, in den Labors hehrer Wissenschaft geschieht, straft die Sehnsucht Lügen, mit der der Protagonist aufgebrochen ist: nämlich die, in der absonderlichen Situation, in der er sich befindet, von einem anderen verstanden zu werden.

Gedächtnistransfer
Statt dieses Verständnisses wird in Samsons Gehirn ein Teil eines fremden Gedächtnisses transferiert - ein Experiment, dem er zugestimmt hat, ohne sich der Implikationen und Folgen dieser merkwürdigen Transaktion bewusst zu sein. Ray, der Initiator dieser Operation, bleibt auch nach Samsons Wutanfall über das, was ihm da angetan wurde, ganz davon überzeugt, dass es richtig ist, die eigene Verwundbarkeit weniger ernst zu nehmen als die Sache, der man sich verschreibt. Ebendeshalb erscheint dieser Forscher als die unheimlichste Figur des Textes: Jede Ethik, die die Leiblichkeit des Menschen in seinem Hier und Jetzt ernst nimmt, ist in seinen Handlungen obsolet geworden.

Fragen über den Menschen
Das ist im Wesentlichen der Plot des Romans, der mit Ausnahme der Anfangs- und die Schlussszene aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird. Es ermangelt diesem Plot weder an Abenteuerlichkeit und damit an Spannung noch an dem Vermögen, Fragen über den Menschen zu stellen, über seine Möglichkeiten, mit sich und anderen in Beziehung zu treten. Diese spezifische Verschmelzung von Philosophie und handlungsstarker Erzählung muss man allerdings mögen, um von dem berührt zu werden, was der Text verhandelt, nämlich die Einsamkeit, die durch die Unteilbarkeit von Geschichte entsteht.

Manchmal erscheint es, als ob von allem ein wenig zu viel erzählt würde. Die Gefühle und Gedanken der Figuren fließen dann und wann in sehr kalkulierte Handlungen und Bilder. Eben das nimmt ihnen etwas von dem Geheimnis, mit dem sie allein bleiben - und um dessen Darstellung es dem Roman doch geht.

Und trotzdem hat das Schlussbild etwas glaubhaft Trauriges: Es ist Anna, die sich erinnert, und zwar an einen Augenblick von Nähe zu Samson - und damit zu dem Mann, den sie verloren hat, weil er nicht mehr in der Lage ist, sich zu erinnern, wie es war, als er sie geliebt hat. Er sagte - heißt es da - er hätte nichts dagegen sich immer daran zu erinnern, bei mir liegend auf den See hinauszuschauen.

Zu schade, denk ich mir, wenn ich das Buch zuklappe, dass ausgerechnet solche Augenblicke vom Verschwinden bedroht sind.

Hör-Tipp
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Buch-Tipp
Nicole Krauss, "Kommt ein Mann ins Zimmer", aus dem Englischen von Grete Osterwald, Rowohlt 2006, ISBN 349803524X