Die analytische Betrachtung der Kunst

Das Unbewusste und das Schöne

"Ich habe oft bemerkt, dass mich der Inhalt eines Kunstwerkes stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften, auf welche doch der Künstler in erster Linie Wert legt. Aber Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus", schrieb Sigmund Freud.

Sigmund Freud legte 1900 in den mehr als 600 Seiten der Traumdeutung den Königsweg zum Unbewussten dar: In den Vorarbeiten zu diesem, die geistige und kulturelle Entwicklung revolutionierenden Buch standen Kunstwerke Pate: In seinen Schriften zeigte sich Freud von den Künsten fasziniert.

Theorien - wie die des berühmten Ödipus-Komplexes - fand er in einem antiken literarischen Werk vorformuliert. Kunstwerke dienten ihm zur Entwicklung einer Methode zur Analyse psychischer Vorgänge.

Kunstbetrachtungen

Als Wissenschaft der unbewussten psychischen Vorgänge entworfen, wurde die Psychoanalyse rasch auf alle Felder der sozialen und kulturellen Äußerungen übertragen. Sigmund Freud 1923 in "Kurzer Abriss der Psychoanalyse" dazu:

Die Arbeit der Psychoanalytiker (hat) eine Fülle von Licht auf die Gebiete der Mythologie, der Literaturwissenschaft und der Künstlerpsychologie geworfen. Man hat gezeigt, dass Mythen und Märchen eine Deutung zulassen wie die Träume, hat die verschlungenen Wege verfolgt, die vom Antrieb des unbewussten Wunsches bis zur Realisierung im Kunstwerk führen, hat die affektive Wirkung des Kunstwerks auf den Empfänger verstehen gelernt und beim Künstler selbst dessen innere Verwandtschaft wie seine Verschiedenheit vom Neurotiker geklärt und den Zusammenhang zwischen seiner Anlage, seinem zufälligen Erleben und seiner Leistung aufgezeigt. Die ästhetische Würdigung des Kunstwerks sowie die Aufklärung der künstlerischen Begabung kommen zwar als Aufgabe für die Psychoanalyse nicht in Betracht. Es scheint aber, dass die Psychoanalyse imstande ist, in all den Fragen, die das menschliche Phantasieleben betreffen, das entscheidende Wort zu sprechen.

Der Zusammenhang zwischen den Kindheitseindrücken und Lebensschicksalen des Künstlers und seinen Werken als Reaktionen auf diese Anregungen gehört zu den anziehendsten Objekten der analytischen Betrachtung.

Beispiel: Leonardo da Vinci

Leonardos Mutter war früh gestorben, und er erhielt mit der zweiten Frau seines Vaters eine zweite Mutter. Seine Erinnerung an die Kindheit, auf die Freud seine Thesen aufbaut, ähnelt einer Fabel: ein kleiner, geierähnlicher Raubvogel setzt sich auf die Wiege, in der Leonardo schlief, und steckte ihm seinen Schwanz zwischen die Lippen. Freud deutet dies auch sexuell. Das Kunstwerk, das mit diesem Kindheitserlebnis in Zusammenhang gebracht wird: das rätselhafte, im Louvre hängende Bild Heilige Anna Selbdritt, 1510 gemalt.

Es zeigt die Heilige Anna, die Mutter Marias, Maria und den kleinen Jesus, gibt mit dem Lämmchen auch einen Hinweis auf Johannes den Täufer. Maria und Anna verschmelzen auf dem Bild im Unterleib - eine für das frühe 16. Jahrhundert ungewohnte Darstellungsweise. Freud versuchte jedoch mit der Deutung des Kunstwerkes noch etwas anderes zu klären: Warum hat Leonardo einen so großen Wissensdrang, dass er in einem späteren Leben die Kunst vergisst und sich der Naturerforschung zuwendet? Freuds These: die nicht ausgelebte Sexualität wird nicht verdrängt, sondern zur Wissbegierde sublimiert, umgelenkt.

Die Triebe und ihre Umwandlungen sind das letzte, das die Psychoanalyse erkennen kann. Von da an räumt sie der biologischen Forschung den Platz. Verdrängungsneigung sowie Sublimierungsfähigkeit sind wir genötigt, auf die organischen Grundlagen des Charakters zurückzuführen, über welche erst sich das seelische Gebäude erhebt. Da die künstlerische Begabung und Leistungsfähigkeit mit der Sublimierung innig zusammenhängt, müssen wir zugestehen, dass auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist. (Sigmund Freud, "Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci")

Die psychoanalytische Kunsttheorie

Die aktuelle psychoanalytische Kunsttheorie geht von anderen - nicht spezifisch kunstbezogenen - Arbeiten Freuds aus, in denen nicht Inhalte interpretiert werden, sondern gezeigt wird, wie Elemente eines psychisches Vorgangs zusammenhängen, wie sich die komplexe Struktur eines Symptoms aufbaut.

So wie die psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud von Zeitgenossen und Nachfolgern diskutiert, weiterentwickelt, verworfen wurden, geschah dies auch im kunsttheoretischen Feld. Heute gilt es für Kunstbetrachter und -interpreten, verschiedene Register der psychoanalytischen Annäherung an Kunst zu ziehen. Besonders intensiv diskutiert wird die psychoanalytische Deutung der künstlerischen Form.

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Dimensionen, Montag, 13. November 2006, 19:05 Uhr

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Links
Sigmund Freud Museum Wien
Freud-Institut
Wiener Psychoanalytische Vereinigung