Ost-West-Gefälle bei Adipositas
Welche Therapie für welche Essstörung?
Internationale Klassifikationen definieren Anorexie, Bulimie und die Binge eating disorder als Essstörungen. Adipositas, die Fettleibigkeit, wird nicht als Essstörung geführt, obwohl sie häufiger vorkommt und sehr schwierig zu therapieren ist.
8. April 2017, 21:58
Beim 14. internationalen Kongress Essstörungen, der im Oktober 2006 in Alpbach in Tirol stattfand, stand die Adipositas ebenso auf dem Programm wie andere Essstörungen.
Der Wiener Psychologe Reinhold Jagsch betonte die Brisanz des Problems: Während zum Beispiel im Burgenland 1991 noch zwölf Prozent der Bevölkerung als adipös eingestuft wurden, ergab eine Untersuchung aus dem Jahr 2000 eine Prävalenzrate von fast 30 Prozent. Das Burgenland liegt damit österreichweit an der Spitze. Generell fällt ein starkes Ost-West-Gefälle auf, in Tirol und Vorarlberg ist Adipositas seltener - eine deutliche Steigerung ist jedoch auch hier zu verzeichnen.
Kurzfristige Euphorie
Jagsch ist Mitautor einer Studie zur Evaluation der Adipositas-Therapie, die beim Kongress in Alpbach präsentiert wurde. Zu Beginn der dreiwöchigen Therapie hatten alle Patientinnen und Patienten eine stark verminderte Lebensqualität.
"Im Verlauf der Therapie änderte sich das. Es stellte sich ein Euphoriegefühl ein, das Wohlbefinden steigerte sich deutlich", berichtet Reinhold Jagsch. Doch schon wenige Wochen nach Beendigung der Therapie verpuffte dieser Effekt. Die Folgerung der Studienautoren: Therapien müssten längerfristig und vor allem lebensnah sein - ein ambulantes Programm über mehrere Monate wäre Ziel führender als ein kurzer stationärer Aufenthalt.
Lebensnahe Therapie
Ein Plädoyer für die ambulante Therapie bei Essstörungen, im speziellen bei Anorexie, hielt auch der britische Psychiater Simon Gowers in seinem Eröffnungsvortrag. Seine neueste Studie ergibt, dass die Heilungschancen bei Patientinnen, die stationär behandelt wurden, nicht besser sind als bei rein ambulanter Therapie.
Die Lebenssituation - die Familie, die Schule und das restliche soziale Umfeld - müsse in der Therapie berücksichtigt werden, sagt Gowers, und das wäre ambulant eher möglich.
Weltweite Charta
Zum ersten Mal auf deutsch präsentiert wurde in Alpbach die internationale Charta für Essstörungen. Im Juni 2006 wurde dieses Forderungspapier auf dem Weltkongress der Academy for Eating Disorders in Barcelona verabschiedet und soll nun in allen Ländern bekannt gemacht und umgesetzt werden.
Günther Rathner, der Veranstalter des Kongresses in Alpbach und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Essstörungen, pochte bei der Präsentation vor allem auf die Einhaltung der Patientenrechte. Das sei bei Essstörungen besonders wichtig, "weil diese Patienten zumindest in einer bestimmten Phase der Erkrankung ihre Krankheit verleugnen." Menschen, die ihre Krankheit verleugnen, würden bei Behandlern oft als schwierige Patienten gelten. "Und im Umgang mit schwierigen Patienten wird leichter auf die selbstverständliche Beachtung der Patientenrechte vergessen", meint Rathner.
Multiprofessionelle, spezialisierte Therapieeinrichtungen werden in der Charta ebenso gefordert wie die Einbeziehung von Patienten in Behandlungsentscheidungen. Außerdem werden alle Verantwortlichen aus Politik und Gesundheitsversorgung aufgerufen, die Gesellschaft über Essstörungen zu informieren und das Verständnis dafür zu fördern, "dass eine Essstörung keine selbst gewählte Krankheit ist."
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Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 8. November 2006, 19:05 Uhr
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Links
Österreichische Gesellschaft für Essstörungen
Verein Netzwerk Essstörungen in Innsbruck