Die poetische Seele der brasilianischen Musik
Vinicius de Moraes
Vinicius de Moraes war die Seele der brasilianischen Musik der 1950er, 60er und 70er Jahre und das Zentrum vieler künstlerischer Partnerschaften. Wie kein anderer hat er seinen Grundsatz gelebt, dass das Leben die Kunst des Sich-Begegnens sei.
8. April 2017, 21:58
Ornella Vanoni - Samba prá Vinicius
Rio de Janeiro im Jahr 1956: Der brasilianische Filmkritiker, Schriftsteller und Diplomat Vinicius de Moraes sitzt mit dem Musikkritiker Lucio Rangel im Nachtklub Vilarinho bei einigen Gläsern Whiskey. Vinicius fragt seinen Freund, ob er nicht einen guten Komponisten zur Vertonung seines Theaterstückes "Orfeu da Conceicao" wüsste, und Rangel deutet sofort auf den Barpianisten, der hier wöchentlich spielt.
Der Schriftsteller ist skeptisch - der Pianist auch. "Und, springt dabei auch was heraus?" ist dessen einzige Frage. Doch nach einer positiven Antwort macht er sich noch in der Bar ans Komponieren. Der Pianist heißt Antonio Carlos Jobim. Wenige Jahre später schreiben die beiden gemeinsam den Welthit der Bossa-Nova-Ära: "Garota de Ipanema".
Zwischen Literatur und Musik
Geboren wurde Marcus Vinicius da Cruz de Melo Moraes 1913 in Rio. Er studierte Jus und Literaturwissenschaft, unter anderem in Oxford, arbeitete für die BBC. Während des Kriegs kehrte er nach Brasilien zurück, arbeitete als Journalist und organisierte im Auftrag des späteren Präsidenten Juscelino Kubitschek einen Literaturzirkel.
In dieser Zeit entstanden Kontakte und Freundschaften mit den wichtigsten Künstlern und Intellektuellen seiner Zeit: mit Oscar Niemeyer, dem Architekten von Brasilia, oder mit Schriftstellern wie Jorge Amado und Pablo Neruda.
Staatsdienst und Exil
Anfang der 40er Jahre trat er in den diplomatischen Dienst ein und wurde Vizekonsul in Los Angeles. Dort trieb er sich viel in Hollywood herum, verkehrte mit Größen wie Orson Welles und Walt Disney, und gründete eine Filmzeitschrift. 1953 übersiedelte er an die brasilianische Botschaft in Paris, später nach Montevideo. Immer wieder schaute er jedoch im geliebten Rio vorbei und verfasste mit Jobim und anderen künstlerischen Weggefährten neue Songs.
Die Hälfte seines Lebens verbrachte Vinicius de Moraes im Ausland: zunächst als Diplomat im Staatsdienst, dann - während der brasilianischen Militärdiktatur - im politischen Exil. Erst Ende der Siebziger Jahre kehrte er endgültig in seine Heimat zurück. Dort starb er 1980, nachdem er zum neunten Mal geheiratet hatte, an den Folgen seines turbulenten Lebensstils.
Eine multiple Persönlichkeit
Vinicius de Moraes war sich selbst immer einen Schritt voraus. Er hatte stets eine Schublade in seiner Persönlichkeit, die Neues und Unerwartetes hervorbrachte. Das hatte ihm in Zeiten des diplomatischen Dienstes immer wieder scharfe Kritik von höchster staatlicher Seite eingebracht, aber es fand die Bewunderung seiner Künstlerkollegen.
Der befreundete Schriftsteller und Journalist Stanislaw Ponte Preta beschrieb ihn humorvoll in einem Wortspiel mit Hinweis auf die portugiesischen Regeln der Pluralbildung: "Er ist eine multiple Persönlichkeit: Er heißt Vinicius de Moraes. Wäre er nur ein einzelner, würde er Vinicio de Moral heißen!" Und einer der wichtigsten brasilianischen Lyriker, Carlos Drummond de Andrade, meinte über Vinicius: "Er war der einzige brasilianische Poet, der auch das Leben eines Poeten geführt hat."
Ein Lebenswerk in künstlerischen Partnerschaften
Vinicius de Moraes war die Seele der brasilianischen Musik seiner Zeit. Er knüpfte Freundschaften mit Komponisten und Interpreten, brachte sie zusammen und machte sie groß. Im Laufe seines Lebens schrieb er nicht weniger als 400 Song-Lyrics, darunter viele der großen Bossa Nova Welthits.
Sein kreatives Schaffen war geprägt von der Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten künstlerischen Partnern, die meist zu lebenslangen Freunden wurden: Mitte der 50er Jahre Antonio Carlos Jobim, Anfang der 60er Jahre Baden Powell, in den 70er Jahren der junge Gitarrist Toquinho.
Daneben gab es Projekte mit Carlos Lyra, Edu Lobo, Dorival Caymmi und Chico Buarque, Studio- und Live-Aufnahmen mit Sängerinnen wie Odette Lara, Miucha, Maria Creuza, Maria Bethania, Ornella Vanoni und anderen.
Musik als Religion
Wie ein Priester hat Vinicius de Moraes die brasilianische Musik zelebriert und immer wieder ihre religiöse, rituelle Dimension und ihre afrikanischen Wurzeln betont. Sich selbst beschrieb er deshalb auch als den "schwärzesten Weißen Brasiliens - aus der direkten Ahnenlinie des Gottes Xango".
Sein "Samba da Bencao" ("Samba des Segens") bringt diese musikalische Religiosität auf den Punkt:
Samba zu machen, so wie man Witze erzählt, ist nichts wert.
Ein guter Samba ist eine Form von Gebet.
Denn der Samba wurde in Bahia geboren,
und auch wenn er in seiner Poesie heute weiß ist,
so ist er doch immer noch zutiefst schwarz in seinem Herzen.
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Links
Vinicius de Moraes
Wikipedia - Vinicius de Moraes (englisch)