Zuerst Wirtschaftswachstum, dann Umweltschutz

Die Umweltpolitik Russlands

Russland boomt. Allein im Vorjahr wuchs die Wirtschaft um sechs Prozent. Der Umweltschutz bleibt dabei allerdings zumeist auf der Strecke, vor allem deshalb, weil das Umweltthema den Kreml-Herren ausgesprochen lästig ist, denn Umweltschutz kostet viel Geld.

Aleksej Jablokow zur Umweltsituation in Russland

Russlands Wirtschaft wächst und wächst. Immer mehr ausländische Konzerne springen auf den Zug auf. VW etwa plant eine neue Produktionsstätte südlich von Moskau.

Über die Umweltsituation im mit Abstand größten Land der Erde aber liest und hört man nur wenig. Das liegt auch daran, dass das Thema Umweltschutz den Machthabern im Kreml eher lästig ist. Umweltschutz kostet Geld, statt Profit zu bringen.

Ökologisches Notstandsgebiet

Am Leninskij Prospekt, einer der riesigen Moskauer Ausfallsstraßen, ist wieder einmal ein Megastau. Kein Wunder! Denn neue Straßen wurden in den letzten zehn Jahren nur wenige gebaut, und Abgasnormen sind in Russland kein Thema. Andererseits ist in diesem Zeitraum die Zahl der zugelassenen Autos um das Vier- bis Fünffache gestiegen.

Aleksej Jablokow, der Gründer von Greenpeace Russland und Vorsitzende der Grünen Partei, hat in dieser Straße sein Büro. Er verweist auf unabhängige Untersuchungen, aus denen hervorgeht, dass heute 14 bis 15 Prozent seines Landes ökologisches Notstandsgebiet sind. Die Folgen seien dabei aber nicht nur für die Natur, sondern vor allem auch für die rund 60 Millionen Einwohner verheerend, sagt Jablokow. Demnach besagen Schätzungen, dass etwa 300.000 bis 350.000 Menschen an den direkten Folgen der Umweltverschmutzung sterben.

Umweltschutz als Störfaktor

Der Staat indes hält sich vornehm zurück, wenn es um Umweltauflagen für die boomende Industrie im Land geht. Seit Präsident Putin das Land mit fester Hand regiert, sei das Thema Umweltschutz mehr und mehr zum lästigen Störfaktor für den Kreml geworden, meint Jens Siegert vom Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung. Seit dem Amtsantritt von Putin sei die Umweltgesetzgebung systematisch zurückgefahren worden:

"Das Umweltschutzamt, ein Komitee, dessen Vorsitzender den Rang eines Ministers hatte, ist als eigenständige Behörde abgeschafft und dem Ministerium für Naturressourcen untergeordnet worden. Dieses Ministerium ist auch zuständig für die Vergabe von Schürflizenzen für Öl oder Gas. Da ist der Bock schlicht und einfach zum Gärtner gemacht worden", betont Siegert.

Auch die Umweltpolizei wurde bis zur Bedeutungslosigkeit verkleinert. So gibt es für die Provinz Tjumen - ein Gebiet etwa so groß wie Frankreich, das durch seine riesigen Öl- und Gasvorkommen bekannt ist - nur noch zwei staatliche Umweltinspektoren.

Wenn Abgeordnete zu Sklaven werden

Auch den Umweltorganisationen werde das Leben schwer gemacht, weil sie neben der alltäglichen Schikane durch Behörden ebenso von den staatlich kontrollierten Medien ignoriert würden, weiß Jens Siegert durch seine Arbeit vor Ort: "Auch demokratische Prinzipien gelten in Russland nicht für jene, die öffentlich unbequeme Themen ansprechen. Die Abgeordneten werden zunehmend zu Sklaven ihrer Parteiführung, und die Parteiführungen sitzen in Moskau um den Kreml herum. Welchen Einfluss hat dann noch irgendeine Initiative in Zentralsibirien oder in Woronesch in Zentralrussland? Keinen! Es bleibt nur noch die Möglichkeit auf die Straße zu gehen."

Nur wenn was im großen Stil passiert, dann kann auch der Kreml nicht mehr wegschauen - wie etwa im Fall der geplanten Erdölpipeline, die in unmittelbarer Nähe des Baikalsees gebaut werden sollte. Protestmärsche von über 20.000 Menschen in der Provinzhauptstadt Irkutsk zwangen den russischen Präsidenten schließlich im Frühjahr, die Pläne zu überdenken und eine Verlegung der Pipeline weiter ins Landesinnere zu veranlassen.

Altlasten ungelöst

Russland hat aber nicht nur mit aktuellen Problemen wie dem Straßenverkehr und wachsenden Müllbergen zu kämpfen, sondern auch mit zahlreichen Altlasten aus Sowjet-Zeiten. 2007 etwa jährt sich zum 50. Mal die Explosion der Atomfabrik Majak, die laut Experten-Meinung nicht weniger Radioaktivität freigesetzt hat als Tschernobyl vor 20 Jahren.

Der Fall Majak sei bis heute nicht untersucht, das gesamte Gebiet hochgradig verseucht, betont Umweltexperte Siegert und verweist auf ein Gutachten aus den 1990er Jahren, aus dem hervorgeht, dass knapp ein Sechstel der Fläche Russlands dermaßen radioaktiv verseucht ist, dass es eigentlich nicht bewohnbar ist: "Die Leute leben aber dort. Von Auswirkungen ist allerdings nichts zu hören."

Der Fall Kursk an der Barentsee

Dort, wo die radioaktive Gefahr nicht mehr verheimlicht oder verharmlost werden kann, lässt sich Präsident Putin allerdings finanziell und mit ausländischem Know-how unter die Arme greifen. Jüngstes Beispiel: der weit im Norden gelegene Militärhafen von Murmansk an der Barentsee. Hier rostet seit Jahren der Stolz der ehemaligen Sowjetunion vor sich hin: 180 Atom-U-Boote.

Eines dieser Boote - die "Kursk“ - erlangte vor sechs Jahren traurige Berühmtheit, als es nur zwei Kilometer vom Hafen entfernt sank und 118 Seeleute mit ins Grab nahm. Jetzt sollen die schwimmenden Zeitbomben entschärft werden. Ein Team von Ingenieuren unter deutscher Leitung hat dort in der Rekordzeit von zwei Jahren die weltweit größte Anlage zur Entsorgung atomarer Unterseeboote gebaut. 600 Millionen Euro Steuergelder allein aus Deutschland fließen in dieses Projekt.

Neulasten geplant

Ungeachtet der Bedrohung durch radioaktiven Müll setzt Russland verstärkt auf die Atomenergie. Kürzlich sickerte aus Regierungskreisen durch, dass bis zum Jahr 2030 vierzig neue Reaktoren gebaut werden sollen. Der Blick des Umweltexperten Jablokov in die Zukunft fällt angesichts solcher Zahlen nicht gerade rosig aus:

"Wenn man sich anschaut, wie der Kreml in Umweltfragen agiert, wird klar: Diese ganze Deökologisierung des Landes ist nicht zufällig. Da steckt eine Ideologie dahinter: 'Um die Ökologie sorgen wir uns dann, wenn Russland reich ist'. Damit Russland aber reich wird, werden die natürlichen Ressourcen ohne Rücksicht auf Verluste ausgebeutet. Dabei sind Umweltgesetze und -organisationen nur lästig. - So lautet die Handlungsmaxime des Kreml; und das zeigt sich jeden Tag."

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Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonnentInnen können die Sendung "Europa-Journal", vom Freitag, 6. Oktober 2006, 18:20 Uhr zum Thema "Deökologisierung Russlands" nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Links
Wikipedia - Russland
Greenpeace Russia
Heinrich-Böll-Stiftung