Dirnenlieder über Krankheit und Tod

Dunkelgraue und andere Hurenlieder

Hurenlieder haben nichts mit Erotik zu tun. Sie sind nackt und eindeutig. Vieles schlummerte viele Jahre in den Giftschränken der Archive. Volksliedsammlungen wurden von Eindeutigem bereinigt. Selbst Goethe dichtete zum Thema Passendes.

Marlene Dietrich und Hedi Thimig

"Achtung Programmierer" stand auf alten Bändern, wenn die Rundfunkanstalten ihre Hörer und Hörerinnen davor schützen wollten, verdorben zu werden. Wir öffnen den Giftschrank, den es zwar in jedem Archiv gibt, der aber nur von bestimmten Männern geöffnet werden durfte. "Nur für Gelehrte" stand auf den Ausgaben. Oder: "Nur für Herrenabende" und "Nur für Erwachsene".

Hurenlieder: nackt und eindeutig. Sie haben nichts mit Erotik zu tun.

Schafft Huren, Diebe, Ketzer her
Und macht das Land chaotisch,
Dann wird es wieder menschlicher
Und nicht mehr so despotisch.
(Konstantin Wecker: "Schafft Huren, Diebe, Ketzer her")

Das deutsche Dirnenlied

Roger Stein hat eine empfehlenswerte Dissertation über das deutsche Dirnenlied geschrieben, die heuer bei Böhlau erschien. Es ist eine Geschichte der verdrängten Forschung in Literatur und Musikwissenschaft.

Dirnenlieder sind Lieder von Krankheit und Tod:

Im Jahre dreiundneunzig
Da is mir was passiert
Da hams mi ohne Umständ
Ins Wiedner Spital gführt.
Saal neunzehn bin i kumma
Uje da hab i gschaut
Da steht der Spekuliertisch
Jetzt Maderl steig hinauf.
Aufs Stiegerl bin i kummen
Vergelts Gott hab i gsagt
Jetzt hat die arme Lotte
den Feldzug mitgemacht.


Als im 19. Jahrhundert die Volksliedsammlungen heraus kamen, sollte das Lied des Volkes als etwas Reines, Ursprüngliches, Ungekünsteltes dargestellt werden.

Bereinigte Liedsammlungen

Volksliedsammlungen waren in alle Länder der Welt vor allem Bereinigungen: von anzüglichen Anspielungen, von alten Weisheiten wie Abtreibungskräutern.

Das natürliche Volksempfinden sollte pur und rein und asexuell sein. Es war der modernen Haltung des Kronprinzen Rudolf zu danken, dass er einem Sexualforscher den Auftrag gab, der sträflich vernachlässigten Volkserotik Gehör zu verschaffen, der akademische Patriarchalismus, oder der patriarchale Akademismus leistete erbitterten Widerstand.

Erotische Volkslieder aus Deutsch-Österreich

Vor genau hundert Jahren, 1906, veröffentlichte einer seiner Mitarbeiter, Emil Karl Blümml, erotische Volkslieder aus Deutsch-Österreich, allerdings nur als Privatdruck für Gelehrte - den Bibliotheken durfte man das also noch nicht antun oder zutrauen. Am Titelblatt: eine "Ménage à trois", eine Frau und zwei gehörnte Männer mit Teufelsschwänzen.

Manche der Hurenliedsammler gaben sich Pseudonyme, einer nannte sich K. Giglleithner, auch in den privatesten Drucken und Sammlungen waren die schlimmsten Strophen ausgelassen, wenn sie - wie die Kommentatoren vermerkten - zu deutlich die Geschichte malten.

Spittelberglieder

Der Spittelberg, ursprünglich Kroatenquartier, war in Wien das, was vorher die Kärntner Strasse war, und jetzt der Gürtel ist.

Steck man eini, steck man eini
Steck man nit danebn.
I bin a arms Madl
Und muass davon leben.
(Ein Vers aus den Spittelbergliedern)


Hurenlieder, Strich- und Häfenlieder handeln von der Mutzenbacherin, von den Zuhältern, sie heißen "Vernasch mi", "I bin a gescherte Hur" und "I bin schon g'standn in jeder Gassn". Auch Goethe dichtete zum Thema Passendes. Das Modell eines Ergänzungsgedichts, das gerade in diesem Genre sehr beliebt ist:

Für euch (Weiber) sind zwei Dinge
Von köstlichem Glanz
Das leuchtende Gold
Und ein glänzender ...

Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

Eine Hure der großen deutschen Literatur ist Lola, die fesche, die den ehrenwerten Professor Rath auf die schiefe Bahn bringt, die Hure, die Professor Unrats Leben ruiniert. Und, wie so oft, will der Gymnasiallehrer Immanuel Rath eigentlich seine Schüler nur vor der Hure Lola schützen und merkt nicht, dass er selbst des Schutzes vor sich selbst bedürfte. Marlene Dietrich sang: "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt".

Selten singen Huren über sich selbst. Diese hier hat eine Preisliste abgestimmt auf den Kunden:

Mein Herr lieben Sie etwas
von meiner Ware
Hier ist der Mund, hier ist die Brust
Hier ist die Fut samt Haare.
Zehn Gulden zahlt ein Offizier
Fünf Gulden ein Advokate
Einen Gulden zahlt ein Grenadier
Zehn Kreuzer der Soldate.

Männliche Prostituierte

Die Huren sind weiblich - nicht immer! Männliche Prostituierte werden im Lied vom "Roten Hans" besungen:

Der Speisenträger Matthias
servierte dann den Schlangenfraß
Der Schankbursch dieses Luder
Ist auch ein warmer Gönner
des Sportvereines Ruder.

Die Engelmacherin

Mit der Profession der Huren florierten andere Berufe, zum Beispiel jener der Engelmacherin, besungen von Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner:

Ihre Kundinnen, die waren niemals skeptisch.
Und war ihr Werkzeug nicht ganz antiseptisch,
Dann machte sie statt einem Engerl zwei.

Hör-Tipp
Spielräume Spezial, Sonntag, 15. Oktober 2006, 17:10 Uhr

Buch-Tipp
Roger Stein, "Das deutsche Dirnenlied", Böhlau Verlag, ISBN 3412033065

Links
Wikipedia - Dirnenlied
Wienerlied.at - Spittelberglieder
Roger Stein
Böhlau Verlag