Vom Kastensystem bis zum Religionskonflikt

Porträt einer Gesellschaft

Wer sind "die Inder"? Und gibt es angesichts der Sprachenvielfalt überhaupt so etwas wie eine indische Identität, die eine Milliarde Menschen teilen? Diese Fragen zu klären haben sich Sudhir und Katharina Kakar mit ihrem Buch vorgenommen.

Schon ein Hinweis in der Einleitung deutet an, dass das Werk wohl einen anderen Titel - nämlich "Die Hindus" - besser vertragen hätte, denn Katharina und Sudhir Kakar schreiben:

Unser Ziel ist es, ein facettenreiches Porträt zu skizzieren, in dem sich Inder wiedererkennen und von anderen wiedererkannt werden. Dieses Wiedererkennen kann von keiner Einheitlichkeit sein. Es ist anzunehmen, dass Hindus der mittleren und oberen Kasten ein Porträt mit vielen ihnen vertrauten Geischtszügen entdecken, während andere, die mehr an den Rändern der Hindu-Gesellschaft stehen (beispielsweise Stammesanghörige und Dalits oder Christen und Muslime) sich nur flüchtig gespiegelt sehen.

Die unteren Kasten werden gar nicht erwähnt. Dabei machen diese unteren Kasten zusammen mit den Stammesangehörigen, Dalits, Christen, Muslimen und weiteren kleinen Religionsgruppen zumindest die Hälfte der indischen Bevölkerung aus.

Verhältnis zu Reinheit

Bleiben wir zunächst bei jenen, die sich laut den Autoren in dem vorliegenden Buch in erster Linie wiedererkennen werden. Hier zeichnen die beiden Experten - unter Rückgriff auf frühere Werke Sudhir Kakars - tatsächlich ein vielschichtiges und spannendes Bild. Das Kastensystem und die Einstellungen von Hindus zu Gesundheit und Heilung lassen sich nicht verstehen ohne eine profunde Analyse ihres Verhältnisses zu Reinheit und Schmutz.

So ist die Reinheit des eigenen Körpers und des eigenen Wohnraumes von enormer Bedeutung, während man sich für den öffentlichen Raum nicht zuständig fühlt. Schmutz wird demnach tendenziell nach außen verlagert - in den öffentlichen Raum und auf die Dalits, die "gebrochenen Menschen", wie sich die Unberührbaren heute selbst nennen.

In Indien wird mit der Schmutzphantasie anders umgegangen. Hier werden die unbewussten Phantasien der inneren "Unrat-Fabrik" nach außen, auf eine andere Gruppe, projiziert: die Unberührbaren. Ein Brahmane kann nur deshalb rein sein, weil der Dalit unrein ist.

Veränderungen innerhalb der Mittelklasse

In einer allgemein verständlichen Sprache, die sich jedes Fachjargons enthält, beschäftigen sich Katharina und Sudhir Kakar neben dem Kastensystem mit der Stellung der Frau, mit der indischen Psyche, mit Religion und religiös motivierten Konflikten, mit Spiritualität und Sexualität. Besonderes Augenmerk richten sie dabei auf die vielschichtigen und widersprüchlichen Veränderungsprozesse innerhalb der Mittelklasse. Dabei spielt die Gestalt des - wie sie ihn nennen - "flexiblen Hindu" und seine postmoderne Religiosität eine wichtige Rolle.

Längst hat das New Age auch in der indischen Mittelklasse Einzug gehalten, Eklektizismus ist angesagt, und religiöse Traditionen werden gemäß den veränderten Lebensverhältnissen angepasst und mit neuen Ingredienzien angereichert.

Ausgeklammert bleibt die Frage, wie es in der muslimischen oder christlichen Mittelklasse zugeht und ob sich auch dort eine postmoderne Religiosität manifestiert. Gibt es auch den flexiblen Christen und den flexiblem Muslim? Und inwiefern gleichen oder unterscheiden sie sich vom flexiblen Hindu? Nach Antworten auf diese Fragen sucht man im vorliegenden Werk vergeblich.

Konflikte mit Muslimen

Die Muslime sind lediglich im Abschnitt über "Konflikte zwischen Hindus und Muslimen" präsent. Knapp und doch anschaulich wird hier der Umgang mit der gemeinsamen Geschichte von Hindus und Muslimen geschildert, die von wechselseitigen Beeinflussungen ebenso wie von schweren Konflikten geprägt ist. Die Muslime als Träger einer eigenen Religion und Kultur aber treten nicht auf.

Je nach Angaben leben in Indien 130 bis 150 Millionen Muslime. Nur Indonesien beheimatet eine größere Anzahl von Muslimen, in Pakistan sind es etwa gleich viele wie in Indien. Selbstverständlich bestehen auch zwischen den indischen Muslimen große Unterschiede. Doch nicht einmal knapp und stereotyp wird im vorliegenden Buch der indische Muslim mit seiner Weltanschauung, seiner Familienstruktur, seiner Einstellung zu Frauen, Sexualität oder Gesundheit charakterisiert. Die Existenz einer muslimischen Kultur wird dort anerkannt, wo von den Ansprüchen der Hindunationalisten die Rede ist.

Gut lesbarer Überblick

Wer nach einem gut lesbaren Überblick über die inneren und äußeren Lebenswelten der Hindus und zumal der höheren Kasten sucht, dem ist mit dem Werk von Katharina und Sudhir Kakar bestens gedient. Wer verstehen will, was Angehörige aller Religionsgruppen und Ethnien zu Indern und zu einem Teil der indischen Zivilisation macht, muss sich anderswo kundig machen.

Mehr zum Gastland Indien bei der Frankfurter Buchmesse in oe1.ORF.at und zu Sudhir Kakar in Ö1 Inforadio

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

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Buch-Tipp
Sudhir Kakar, Katharina Kakar, "Die Inder - Porträt einer Gesellschaft", C. H. Beck Verlag, ISBN 3406549691

Veranstaltungs-Tipp
Frankfurter Buchmesse, Mittwoch, 4. Oktober bis Sonntag, 8. Oktober 2006, Messegelände Frankfurt

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