Freuds Erbe - Teil 2
Das Ich-Verständnis
Alfred Adler widmete sein Lebenswerk der Erforschung des Ich im Kontext der Gemeinschaft. Er ging davon aus, dass eine "Organschwäche" beim Patienten ein Minderwertigkeitsgefühl auslöse. Viktor Frankl entwickelte zur selben Zeit die Existenzanalyse.
8. April 2017, 21:58
Bereits 1902 nahm Alfred Adler an den ersten Sitzungen der so genannten Mittwoch-Abend-Gesellschaften teil, die Freud ins Leben gerufen hatte, um seine Gedanken zur Psychoanalyse im Fachkreis zu diskutieren. Dort stellte er seine "Studien über die Minderwertigkeit von Organen" vor. Er ging davon aus, dass eine "Organschwäche" beim Patienten ein Minderwertigkeitsgefühl auslöse.
Alfred Adler erweiterte sein Modell der Organminderwertigkeiten, in dem er annahm, dass in jedem Menschen Minderwertigkeitsgefühle vorhanden seien. Diese seien durch die Dominanz der Eltern gegenüber dem Kinde verursacht. Dagegen, so Adler, wirke das Streben des Menschen, seinen Selbstwert zu regulieren. Mit dieser Annahme stellte Alfred Adler Freuds Triebtheorie in Frage.
Adlers Streit mit Freud
Freuds Konzept, dass die Sexualität die treibende Kraft im menschlichen Seelenleben sei, zweifelte Adler an. Auch sein Modell des Aggressionstriebes war für Freud unannehmbar und führte zur offenen Kontroverse.
1911 trat Adler aus der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft aus. Ein Jahr später gründete er den Österreichischen Verein für Individualpsychologie. Sein Interesse galt einem sozialtherapeutischen Ansatz. Seine Anliegen war die Prophylaxe. Adlers Theorie kreiste um die Frage: welche Anteile des Ichs genetisch und welche sozial geprägt waren. Auf Anregung Alfred Adlers wurden bis zum Jahr 1926 in Wien 100 Erziehungsberatungsstellen und eine Sexualberatungsstelle eingerichtet.
Zwischen Psychotherapie und Philosophie
1920 hörte ein Gymnasiast an der Wiener Volkshochschule Vorträge "Zur Einführung in die Psychoanalyse". Inspiriert von den Ausführungen des Referenten schrieb er den Artikel: "Über die mimische Bejahung und Verneinung aus Sicht der Psychoanalyse" und schickte den Aufsatz an Sigmund Freud. Der Autor war Viktor Frankl.
Freud unterstützte Frankl, doch Viktor Frankl wandte sich bereits 1924 Alfred Adler zu. Er studierte Medizin und beschäftigt sich mit dem Grenzgebiet zwischen Psychotherapie und Philosophie.
Disput zwischen Frankl und Adler
1926 benutzte Viktor Frankl zum ersten Mal den Begriff Logotherapie. Seine These war, dass der Mensch grundsätzlich ein entscheidungs- und willensfreies Wesen sei, das ihn befähige, zu inneren, den psychischen - und äußeren, den biologischen und sozialen Bedingungen eigenverantwortlich Stellung zu nehmen.
Frankl setzte das Bewusstsein über die Lebenserfahrung. Dies missfiel Alfred Adler. 1927 wurde Viktor Frankl aus dem Verein für Individualpsychologie ausgeschlossen. Ein Jahr später organisiert Frankl in Wien Jugendberatungsstellen. Er entdeckte die "Sinnfrage" in der Psychotherapie, und zwar in der Arbeit mit seinen Patienten. Denn die Frage nach dem Sinn des Lebens wurde ihm von den Jugendlichen immer wieder gestellt.
Individualpsychologie und Existenzanalyse
Die Sinnfrage, so Frankl, stelle sich unabhängig von religiösen, politischen oder philosophischen Weltanschauungen. Jeder müsse sie für sich selber lösen. Seinen logotherapeutischen Ansatz entwickelte Viktor Frankl aus der Beobachtung. Frankl sprach von einer Existenzanalyse.
Alfred Adlers Individualpsychologie und Viktor Frankls Existenzanalyse fanden in den USA großen Anklang. Die Analytiker Hermann Nunberg, Rudolph Löwenstein und Ernst Kris, die 1939 in die Vereinigten Staaten emigrierten, widmeten sich ebenfalls der psychoanalytischen Erforschung der Ich-Entwicklung. Diese Arbeiten bildeten die Grundlagen der so genannten Ich-Psychologie, die heute als die wichtigste amerikanische Theorie in der Psychoanalyse gilt.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 25. September bis Donnerstag, 28. September 2006, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Links
Sigmund Freud Museum Wien
Freud-Institut
Wiener Psychoanalytische Vereinigung