Imre Kertész im Gespräch mit Imre Kertész

Dossier K. Eine Ermittlung

Das neue Buch von Imre Kertész ist keine Autobiografie und auch Einführung in sein Werk. Es setzt vielmehr die Lektüre seines Werkes - nicht nur des berühmten "Romans eines Schicksallosen" - voraus, und es legt Hintergründe dieses Werkes frei.

Auf den ersten Blick gibt sich das "Dossier K.", dem im Deutschen der Untertitel "Eine Ermittlung" beigegeben wurde, als Interview. In der Vorbemerkung notiert Kertész, es gehe auf ein Gespräch zurück, das sein Freund und Lektor Zoltán Hafner mit ihm geführt habe. So viel scheint sicher: Die Abschrift des Gesprächs mit Hafner hat Kertész zu einem eigenen Text inspiriert.

Details aus dem eigenen Leben

Der vorliegende Text ist auf jeden Fall Prosa von Imre Kertész in Form eines Selbstgesprächs. Das hat ja schließlich auch eine lange literarische Tradition. Kertész selbst verweist auf die Platonischen Dialoge, aus denen Nietzsche den Roman herleitet, und meint, der Leser habe eigentlich einen Roman zur Hand.

Und eben darum ist die Erwartung, man könne jetzt dahinterkommen, wie es wirklich gewesen ist im Leben von Kertész, fehl am Platz. Diese Erwartung entsteht freilich automatisch, wenn ein Auschwitz-Überlebender einen Roman über Auschwitz schreibt und deutlich wird, wie viele Details aus dem eigenen Leben Eingang in den Roman gefunden haben. Aber es ist eben ein Roman, der nicht von der Erinnerung diktiert wird, sondern seinen eigenen Gesetzen folgt.

Grenze von Autobiografie und Fiktion

Oft sind gerade Szenen, die täuschend lebensecht aussehen, erfunden, während so manche groteske Situation eins zu eins aus dem Leben übernommen ist. Entlang dieser Grenze von Autobiografie und Fiktion bewegt sich das Selbstgespräch des "Dossier K.", sie ist die Schnur, an der die einzelnen Perlen aufgefädelt sind. Wo diese Grenze liegt, wird schon auf den ersten Seiten angesprochen:

Der wesentliche Unterschied besteht (...) darin, dass die Fiktion eine Welt erschafft, während man sich in der Autobiografie an etwas, das gewesen ist, erinnert. Die Welt der Fiktion ist eine souveräne Welt, die im Kopf des Autors geboren wird und den Gesetzen der Kunst, der Literatur gehorcht.

Das "Dossier K." räumt dem autobiografischen Erinnern viel Platz ein und macht gerade dadurch deutlich, wie sehr er in den Romanen den Stoff des eigenen Lebens "verwertet", das heißt in die Fiktion einschmilzt.

Keine banalen Veteranengeschichten

Im "Dossier K." erfährt man, wie sein Leben an vielen Stellen von seinen Romanen abweicht, das "Dossier K." ist dennoch keine Autobiografie. Imre Kertész verweigert sich ihr aus vielen guten Gründen: zum einen, weil er sich nicht mehr in die früheren Erlebnisse hineinversetzen kann. "Ich habe angefangen einzusehen, dass ich meine Jugendzeit nie mehr verstehen werde", schreibt er. Gerade auch die Verarbeitung früherer Erlebnisse in den Romanen hat eine Distanz zu diesen Erlebnissen bewirkt.

Außerdem will Kertész keine banalen Veteranengeschichten des Überlebens erzählen. Der tiefere Grund, warum sich Kertész der Autobiografie verweigert, liegt jedoch darin, dass Autobiografie immer suggeriert, das einzelne Leben entwickle sich zielgerichtet. Und gerade das ist für einen KZ-Überlebenden unerträglich. Für Kertész ist klar: Wenn er die eigene Rettung als rational betrachtet, müsste er auch die Idee der Vorsehung akzeptieren.

Wenn aber die Vorsehung rational ist, warum hat sie sich dann nicht auch auf die übrigen sechs Millionen ausgedehnt, die umgebracht worden sind?

Diese unbeantwortbare Frage hat Konsequenzen für die Romane von Kertész und für seine Ablehnung der Autobiografie.

Jede einmalige Geschichte ist Kitsch, weil sie sich dem Gesetzmäßigen entzieht. Jeder einzelne Überlebende zeugt von einer Betriebspanne. Nur die Toten haben Recht, sonst niemand.

Eine Antwort auf die Welt

"Dossier K." macht noch einmal auf andere Weise als die Essays deutlich, dass Imre Kertész nicht seine private Überlebensgeschichte zu Romanen verarbeitet hat, sondern den Bruch, den Auschwitz für die europäische Kultur bedeutet. Oder, wie es im "Dossier K." lapidar heißt:

Anscheinend kommt man rasch bei der Frage des Mordes an, wenn man über Kultur und europäische Wertordnung zu sprechen beginnt.

Für jeden Kertész-Leser ist das "Dossier K." unentbehrlich, aber nicht, weil hier der Vorhang ein Stück weit zur Seite geschoben und einige Einblicke in das Privatleben des Autors möglich werden oder Bruchstücke seiner Familiengeschichte auftauchen. Sein Werk ist eine Antwort auf die Welt, die ebenso genau reflektiert wie durch seine Biografie beglaubigt ist. Das "Dossier K." liefert nicht Material zu diesem Werk, sondern ist selbst ein wichtiger Teil davon.

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Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 25. September 2006, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Imre Kertész, "Dossier K. Eine Ermittlung", aus dem Ungarischen übersetzt von Kristin Schwamm, Rowohlt Verlag 2006, ISBN 3498035304