Roman in Zwischenräumen
Ihre Musik
"Ihre Musik" steht in der Tradition eines Prosaschreibens, das nicht auf die erzählte Geschichte baut, sondern auf die Wahrnehmung der Welt, der äußeren und der inneren Welt. Das heißt nun aber nicht, dass das Buch keine Figuren und kein Thema hätte.
8. April 2017, 21:58
Was macht einen Roman aus? Ein breit gefächertes soziales Spektrum, in das eine spannende Geschichte eingebettet ist? Und welche Funktion hat der Roman heute noch? Viele würden wahrscheinlich immer noch sagen, er solle eine Mischung aus Unterhaltung und Belehrung sein, wobei in der Belehrung auch Aufklärung mitschwingt.
All dies bietet der Roman von Thomas Stangl nicht, beziehungsweise in ganz anderer, schwerer zugänglicher Weise. "Ihre Musik" steht in der Tradition eines Prosaschreibens, das nicht auf die erzählte Geschichte baut, sondern auf die Wahrnehmung der Welt; wobei unter Welt nicht die äußere Wirklichkeit zu verstehen ist mit ihren sozialen Verhältnissen, ihren Mechanismen von Macht und Unterdrückung, vielmehr verschwimmen die Bilder der Wirklichkeit mit den inneren Bildern; die Wirklichkeit ist ein Resultat der Wahrnehmung.
Zwei Frauen
Im Mittelpunkt stehen die um die 60 Jahre alte Emilia Degen und ihre etwa 30-jährigeTochter Dora, die in einer Altbauwohnung im zweiten Wiener Bezirk, der Leopoldstadt, leben, und dies seit Jahrzehnten. Der Zeitpunkt, an dem Dora die Wohnung hätte verlassen können, ist offensichtlich verpasst, die beiden Frauen leben miteinander und nebeneinander ihre Leben, die sich zusehends auflösen.
Emilia ist Lehrbeauftragte an der Uni gewesen, war früher politisch engagiert, und schreibt nach wie vor auf ihrer Schreibmaschine für eine Zeitschrift Artikel, von denen sie selbst überrascht ist, dass sie überhaupt noch gedruckt werden. Dora hat Philosophie studiert, aber auf dem entscheidenden letzten Gang, der sie zu ihrem Rigorosum führen sollte, dreht sie in die Wiener Innenstadt ab.
Hinübergleiten in den Tod
"Ihre Musik" ist ein Roman auch über das Sterben, nicht über den Tod, der ja wie die Liebe unser Klischeebild von Romanen bestimmt, sondern über das Dazwischen. Liest man den Roman als Erzählung eines langsamen Hinübergleitens in den Tod, als Beschreibung eines Zwischenraumes, für den uns die einfachen Wörter fehlen, dann wird die Lektüre plötzlich klarer, vielleicht auch leichter, denn es handelt sich bei diesem Buch um erschwerte Lektüre, um Sätze, die wir, wenn die Konzentration nachlässt, sofort verlieren.
Ein weiteres Indiz für den Zwischenraum, den der Roman abbildet, ist der immer wieder auftauchende Ich-Erzähler, der auf unwirkliche Art und Weise wirklich ist. Dieser "Ich-Erzähler" kann fliegen, er ist ganz nahe bei den Figuren, ohne dass sie ihn zu bemerken scheinen. Er ist vielleicht ein Engel.
Manche Straßen können durch anfangs sehr seichte Wasserläufe ersetzt werden, ich bin zu schwer, um unterzugehen, zu schwer, um auch nur den Wasserspiegel mit den Zehen zu berühren, gleite über die widergespiegelten Fassaden und Autokarosserien hinweg die Praterstraße entlang und vorbei am Denkmal des Admirals Tegetthoff, mit den grünspanigen von einer Säule durchbrochenen Schiffen hoch in der Luft, zum mit rostendem weißem Wellblech verkleideten Gebäude des Nordbahnhofs, das die Blickachse zwischen Fluss und Dom zerschneidet.
Ineinandergreifen von Bildern und Erinnerungen
"Ihre Musik" ist ein synästhetisches Buch, es enthält vor allem Bilder und Bildbeschreibungen, bevor ganz am Schluss, als Dora stirbt, für ihre Mutter Emilia eine leise Musik zu vernehmen ist. Thomas Stangl beschreibt ein Ineinandergreifen von Bildern und Erinnerungen: zwischen der Vergangenheit der beiden Frauen mit verschiedenen Männern an verschiedenen Orten, mit Reisen ans Meer, mit Bildern und Szenen aus der Kindheit und der Gegenwart der Wohnung in der Wiener Leopoldstadt und der vielschichtigen Gegenwart einer Stadtlandschaft. Dabei gehen die beiden Frauenperspektiven ineinander über, unmerklich fast, ohne Absatz oder deutliche sprachliche Zeichen ist es plötzlich wieder Emilias Wahrnehmung, der wir folgen und nicht mehr diejenige Doras. Und es gehen die Zeiten ineinander über, was der Funktionsweise unserer Erinnerung entspricht, die immer selektiv, nie linear ist.
Wie schon bei Thomas Stangls erstem Roman "Der einzige Ort" überzeugt die stilistische Sicherheit. "Ihre Musik" ist ein Buch, für das man sich mehr als für viele andere Bücher entscheiden, das man annehmen muss.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Thomas Stangl, "Ihre Musik", Droschl Verlag, ISBN 3854207093