Ein Wochenende mit Herrn Walter
Hier im Regen
"Hier im Regen" ist ein Buch darüber, wie ein Bächlein des Zweifels an einem einzigen Wochenende zu einem großen Fluss der Skepsis wird. Spannender als das, was Lorenz Langenegger daraus gemacht hat, könnte man sich ein Wochenende kaum vorstellen.
8. April 2017, 21:58
Was, so denkt man, könnte es wohl Langweiligeres geben als ein Wochenende mit einem Steuerbeamten in Bern? Jakob Walter, so heißt die Hauptfigur in Lorenz Langeggers Debütroman "Hier im Regen", lässt sich noch nicht einmal zum bevorzugten Freizeitvergnügen der Stadtbewohner hinreißen, nämlich in die Aare zu springen und sich ein paar hundert Meter hinunter treiben zu lassen im Fluss – gerade an heißen Sommertagen ist das ein wirklicher Spaß, wie ich auch aus eigener Bern-Erfahrung berichten kann.
Mit Herrn Walter ist dieses kühle Vergnügen nicht zu kriegen: Er ist rechtschaffen, ordnungsliebend und wasserscheu, und auch sehr bedächtig, ganz so wie wir uns hierzulande den rechten Schweizer vorstellen.
Ungewohnte Gewöhnlichkeiten
An einem scheinbar stinknormalen Freitag treffen wir ihn im Text zum ersten Mal an. Beim Aufstehen im Schlafzimmer, wo ihn aber plötzlich ein fremdes Kleidungsstück verwirrt, das über dem Sessel hängt. Von seiner Frau Edith, die sich draußen gerade bereit macht wegzufahren, um über das lange Wochenende ihre Eltern zu besuchen, kann es nicht stammen, denn ihre Garderobe kennt er. Von einer dritten Person also, aber wer sollte das bloß sein? Schließlich gibt Jakob Walter sich selbst Entwarnung: Gegen seine eigentliche Gewohnheit hatte er am Vortag seinen Pullover teilweise umgestülpt hingelegt. Die ihm jetzt zugewandte Innenseite erkannte er erst auf den zweiten Blick.
Dem knapp 160-seitigen Buch gibt diese erste sanfte und dabei schon entscheidende Begegnung mit den ungewohnten Gewöhnlichkeiten des eigenen Daseins die Leitlinie vor. Denn zusehends stellt sich Jakob Walter Fragen: Warum gibt es draußen auf der Straße heute keine Zeitungen? - Ach ja, es ist der 1. August: Schweizer Nationalfeiertag. // Warum ist vor einer Woche die Schildkröte Moritz gestorben? Ausgerechnet jetzt! // Was will der Nachbar von mir, der vor der Wohnungstür steht? Und schließlich, vorgetragen im schlichtesten Tonfall, der jemals einen Menschen als existenzielle Ungeheuerlichkeit getroffen hat: Warum lebe ich eigentlich in Bern? Wo ich noch nicht einmal in die Aare springe und mich den Fluss hinunter treiben lasse?
"Hier im Regen" ist ein Buch darüber, wie ein kleines Bächlein des Zweifels an einem einzigen Wochenende zu einem großen Fluss der Skepsis wird, wobei aber Montag früh sich schon wieder alles in den üblichen Abläufen und Gewohnheiten aufgetrocknet hat. Zwischenzeitlich schwimmt die Aare, die sich Samstag und Sonntag in dem vielen Regen zu einem reißenden Strom wandelt, eine wirkliche Leiche hinunter. Bei dem toten Mann handelt es sich um Rolf, den einzigen wirklichen Freund, den Jakob Walter jemals hatte: ein Wirt aus einem anderen Stadtteil.
Verstellte Möglichkeiten
Dieser Rolf ist an jenem verhängnisvollen Freitag plötzlich verschwunden, und die Suche nach ihm wird für den Steuerbeamten zu einem Road Movie ganz nach seiner Art. Nicht den Feuerstuhl eines Easy Rider besteigt er, sondern die Schweizer Bundesbahn. Mit ihr fährt er nach Locarno, ohne im Vorhinein zu wissen, wo genau er übernachten wird. Für einen durchschnittlichen Schweizer, so lernen wir mit einem ironischen Augenzwinkern aus dem Buch, ist allein das eine Ungeheuerlichkeit. Und genau so definiert Jakob Walter sich selbst: als einen Durchschnittsbürger, der seinem Land dankbar ist, dass es auch durchschnittliche Leistungen mit Wohlstand belohnt.
An diesem einen Wochenende nun reichen ihm die Gewissheiten, in die sein bisheriges Leben gebettet waren, nicht mehr: An seinem durchschnittlichen Leben tun sich bislang verstellte Möglichkeiten auf, und Aber- und Irrwege zeigen sich behutsam und bedächtig auch an seinem Innenleben, ganz so als hätte Jakob Walter am Vortag nicht nur seinen Pullover mit der Innenseite nach außen abgelegt, sondern gleich auch sich selbst.
Blitzgescheit und witzig
Wie Lorenz Langenegger, der knapp 30-jährige Autor aus Zürich, die Geschichte stilistisch hinbekommt, verdient hohe Aufmerksamkeit und großes Lob, denn langweilig ist dieses feingliedrige, blitzgescheite und lustige Buch keine Minute. Ganz im Gegenteil: Spannender als "Hier im Regen" könnte man sich ein Wochenende kaum vorstellen. Ob in der Sonne oder im Regen, in Bern oder anderswo.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Lorenz Langenegger, "Hier im Regen", Jung und Jung
Link
Jung und Jung - Hier im Regen