Stamm-Buch des Lebens

An einem Tag wie diesem

An einem Tag ändert Andreas sein Leben. Er wirft alles hin, um nach einem halben Leben zu der Frau zurückzukehren, die er einmal geliebt hat. Die Gleichheit der Tage war sein einziger Halt, jetzt hofft er auf ein Wunder und darauf, dass alles neu beginnt.

Gleich mit seinem ersten Roman gelang Peter Stamm 1999 der Durchbruch. In "Agnes" erzählte der Schweizer Autor eine seltsame Liebesgeschichte zwischen einem schüchternen Studenten und der Titelheldin Agnes. "Ein brillanter Erzähler", meinte der "Spiegel" darauf hin und auch mit den nachfolgenden Büchern bewies Peter Stamm, dass er zu den wichtigsten Schweizer Schriftstellern der Gegenwart gehört. In seinem neuen Buch "An einem Tag wie diesem" geht es - wie schon im Erstling - um die Liebe und ihre Möglich- bzw. Unmöglichkeit.

Nadja gehörte nicht zu jenen Frauen, die schöner wurden, wenn man mit ihnen schlief. Ihre eng anliegenden Kleider waren wie eine Rüstung, wenn sie nackt war, schien sie jeden Halt zu verlieren und sah alt aus, älter als sie in Wirklichkeit war.

Peter Stamms Romanheld Andreas ist keiner, der seine Umwelt geschönt wahrnimmt. Seien es die optischen Unzulänglichkeiten seiner Geliebten Nadja oder die moralischen Unzulänglichkeiten seiner Kollegen; alles wird penibel aufgeschrieben und mit kaltem Blick seziert. Dabei könnte Andreas ein glücklicher Mensch sein. Der gebürtige Schweizer hat ein wenig Geld geerbt, mit dem er sich in Paris eine kleine Wohnung gekauft hat. Er geht einer Arbeit nach, die ihn nicht besonders stört und hat darüber hinaus auch bei den Frauen Glück. Aber all das kann ihn nicht zufrieden stellen.

Eigentlich könnte Andreas ein glücklicher Mensch sein
Vielleicht liegt es an der Monotonie seines Lebens, denn jeden Tag fährt er wieder mit der Schnellbahn in den Vorort, in dem er als Lehrer tätig ist. Jeden Tag bringt er Schülern, denen sein Unterricht ebenso wenig bedeutet wie ihm selbst, Deutsch bei. Andreas erledigt seinen Job auf die gleiche Weise, wie er sein ganzes Leben erledigt. Er unterrichtet, wie er liebt: Ohne emotionales Engagement.

Klar, präzise und reduziert beschreibt Peter Stamm ein Leben, das mehr als alles andere ein Über-Leben ist. Ein dahin Schwimmen, ein dahin Gleiten in den sich wiederholenden Tagen. Wahrscheinlich würde Andreas Leben ewig so weiter gehen. Doch eines Tages erfährt der Kettenraucher, dass er an der Lunge ein Geschwür hat.

Auf dem Weg zur Praxis sagte er sich hundertmal, dass die Befunde nichts an seinem Zustand änderten, dass längst entschieden war, ob er krank war oder gesund. Aber es half nichts. Obwohl er langsam ging, schwitzte er, und es war ihm übel. Er schaffte es kaum die Treppe hoch.

Katharsis durch Krankheit
Den möglichen Tod vor Augen verkauft Andreas seine Pariser Wohnung, holt das ärztliche Attest nicht ab und fährt zurück in seine Schweizer Heimat. Was ihn antreibt ist die Sehnsucht nach seiner ersten Liebe. Einmal noch will er die Frau sehen, die ihm einst so viel bedeutet hat; einmal will er sie wenigstens küssen.

Peter Stamms Protagonist ist kein Houllebecque’scher Antiheld. Keiner, der immer nur zu kurz kommt und dessen Lebensekel sich aus eben diesem Nicht-Mitspielen-Können speist. Andreas hat alles, was sich ein Mittvierziger im dritten Jahrtausend wünschen kann. Und ist trotzdem - oder eben gerade deswegen - nicht glücklich.

Offenes Ende
Stamms Roman "An einem Tag wie diesem" hat ein offenes Ende. Bis zum Schluss des Buches holt sich Andreas den Befund, der über Leben oder Tod entscheidet, nicht ab. Bis zum Schluss - und darüber hinaus - spielt er mit seiner aktuellen Geliebten das ewige Spiel von Anziehung und Abstoßung.

Man könnte "An einem Tag wie diesem" als einen modernen Existenzialisten-Roman bezeichnen. Was bleibt übrig vom Leben, wenn man nicht mehr an dessen Verheißungen und Versprechungen glaubt? Wenn man die Frauen nackt nicht halb so interessant sind findet wie bekleidet? Wenn man erkennen muss, dass das wahre Leben nur ein schwacher Abklatsch dessen ist, was man sich als Kind erträumt hat?

Es wäre alles viel einfacher, wenn man sich als Opfer sehen könnte, dachte er, als Opfer seiner Kindheit, des Schicksals, der Menschen, mit denen man zusammen gewesen war. Aber um sich als Opfer zu fühlen, musste man an die Möglichkeit eines anderen, eines besseren Lebens glauben. Andreas glaubte an nichts als den Zufall.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 11. August 2006, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 13. August 2006, 18:15 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung "Ex libris" nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Peter Stamm "An einem Tag wie diesem", S. Fischer Verlag, ISBN 3100751256

Link
S. Fischer Verlag - An einem Tag wie diesem