Lesezirkel und Vielvorleser
Der Reiz des Vorlesens
Wenn ein Text eine Stimme bekommt, entsteht für den Zuhörer eine spezielle Situation. Kinder fühlen sich geborgen beim Vorlesen durch Vater oder Mutter, der Partner oder die Partnerin schließen die Augen und der Vortrag wird zu einem vertrauten Akt.
8. April 2017, 21:58
Julius Deutschbauers Vorlese-Visionen
Einmal im Monat trifft sich in der so genannten "Bibliothek ungelesener Bücher", einem Raum in der Herklotzgasse 21 im 15. Bezirk in Wien, eine kleine Runde von Menschen, die sich abwechselnd Textpassagen aus Büchern zu einem vorher ausgewählten Thema vor lesen.
Die Bibliothek ist ein seit zehn Jahren bestehendes Kunstprojekt von Julius Deutschbauer, bei dem er Menschen zu ihrem ungelesenen Buch interviewt und diese Interviews samt ungelesenem Buch ausstellt. Seit zehn Jahren existiert auch der Lese- und Strickzirkel, denn niemand wird gezwungen vorzulesen, wer keine Lust hat, wer zu schüchtern ist, hört einfach zu oder beschäftigt sich mit Handarbeiten.
Vorlesen als künstlerisches Schaffen
Beim Lesezirkel im Juni lautete das Thema "Ironie" und Julius Deutschbauer begann mit einer Passage aus einem Theaterstück von Christian Friedrich Grabbe mit dem Titel "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung".
Öffentliches Vorlesen von eigenen und fremden Texten ist Teil von Julius Deutschbauers künstlerischem Schaffen, und da, räumt er mit schalkhaftem Lächeln ein, gibt es durchwegs kontroversielle Reaktionen.
Vertrauten Stimmen lauschen
Der Spaß am Vorlesen ist für Kinder oft mit einem Gefühl der Geborgenheit verbunden, dem lauschen der vertrauten Stimme von Mutter und Vater, der ersehnten Zuwendung, die man dabei bekommt.
Regina Alfery, Psychologin, Zeichnerin und Komponistin, kann sich ad hoc an keine solche Situation erinnern, aber ein Vorläufer der heutigen Hörbücher hinterließ großen Eindruck: "Eine Sprechplatte, auf der ein Sprecher mit interessanter, fast aufregender Stimme das Märchen von Hänsel und Gretel erzählt hat."
Vorlesen als Ritual
Keine Märchen wurden dem heute 75-jährigen Conny Hannes Meyer in seiner Kindheit vorgelesen, von seinem siebten Lebensjahr an war er in verschieden Heimen und später in Mauthausen interniert. Erst als Jugendlicher holte er die Schulbildung nach, war in der Folge Regisseur, leitete zum Beispiel die Gruppe "Die Komödianten", und betätigt sich bis heute als Schriftsteller.
Vorlesen ist für Conny Hannes Meyer und seine Partnerin Barbara Huemer zum beinahe täglichen Ritual geworden. Derzeit lesen Barbara Huemer und Conny Hannes Meyer aus Peter Härtlings Roman "Schumanns Schatten".
Monatelang ein Buch vorlesen
"Meistens liest ja der Conny", sagt Barbara Huemer, "und ich höre nur zu". Oft lesen die beiden monatelang an einem Buch, wie etwa am 800 Seiten starken Roman der "Rote Ritter" von Adolf Muschg, dann wieder genehmigen sie sich kleine Dosen, in Form der Mozartbriefe zum Beispiel.
Für Conny Hannes Meyer ist das laute Lesen, geprägt durch Erfahrungen aus seiner Theaterzeit, die bessere Form, einen Text zu verstehen.
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Hör-Tipp
Moment, Mittwoch, 2. August 2006, 17:09 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Conny Hannes Meyer, "Ab heute singst du nicht mehr mit", Molden Verlag, ISBN 3854851626
Veranstaltungs-Tipp
Lesezirkel "Bibliothek ungelesener Bücher" von Julius Deutschbauer, Samstag, 23. September 2006, 15:00 Uhr, ab 18:00 Uhr liest Antonio Fian, Herklotzgasse 21, 1150 Wien
Links
esel.at - Bibliothek ungelesener Bücher
artfacts.net - Regina Alfery
aeiou.at - Conny Hannes Meyer