Die Erneuerer der Kunst
Spähtrupp im Niemandsland
Avantgarde stammt ursprünglich aus der Militärsprache und bezeichnet die Vorhut. Das trifft in gewisser Weise auch auf die Kunst zu. Immer wieder wurden und werden Künstler, die Neues wagen, missverstanden, beschimpft und verachtet.
8. April 2017, 21:58
Avantgarde, das ist ein schillernder Begriff. Er steht für eine ästhetische Innovationskraft in Literatur, Malerei und Musik. Doch der "Spähtrupp im Niemandsland", wie der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann in seinen "Kulturphilosophischen Diagnosen" die Gilde der Avantgardisten nennt, erhält ihren Nimbus in einem noch höheren Maße von ihrem Verhältnis zur Politik.
Das Wagnis des ästhetischen Spähtrupps ist, sich den Unabwägbarkeiten und Risken der künstlerischen Erneuerung auszusetzen. Dazu gehört der kunstpolitische Feind, der in Gestalt von Tradition, Kirche und Bildungsbürgertum hinter jedem Gartenzaun zu lauern vermag, konstatiert Konrad Paul Liessmann in seinem Buch. Somit ist die Geschichte der Avantgarde nicht nur eine Geschichte des ästhetischen Fortschritts, sondern immer auch eine der politischen Anfeindungen, denen dieser Fortschritt ausgesetzt war.
Verfolgt und unterdrückt
Viele Richtungen der Avantgarde wurden von den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts verfolgt, unterdrückt, verschwiegen. Das unterstrich ihre politische Bedeutung. Doch dürfe dies nicht darüber hinwegtäuschen, sagen Kunsttheoretiker, dass sich ihr Engagement für die Demokratie westlicher Prägung in Grenzen hielt.
Seit dem 18. Jahrhundert steht es dem Künstler frei zu schaffen, was er will. An die Stelle der Mäzene und Auftraggeber ist der Markt getreten, und dieser hat eigene Gesetze. Bietet er auch Platz für avantgardistische Revolutionäre? Für eine Vorhut, deren Feind die zurückgebliebene Masse und das bornierte Publikum ist, das einen Feind wittert, wo es doch - nach Konrad Paul Liessmanns Befund - um ästhetische Innovationen erster Ordnung gehen sollte. Doch ist gerade diese Feindschaft die Voraussetzung für eine Avantgarde, denn wäre das breite Publikum so aufgeklärt wie der Avantgardist, gäbe es keine.
Individuelles schöpferisches Gestalten gefordert
Derzeit zeigt das Wien Museum eine Ausstellung über den Kinetismus. Dies war die erste Kunstrichtung mit radikal-abstrakten Ansätzen in Österreich. Entwickelt hat sie sich im Verborgenen. Kurz nachdem sie 1924 ihren Höhepunkt erreicht hat, wurde sie auch schon wieder vergessen.
Vater des Kinetismus ist der Reformer des Zeichenunterrichts Franz Cizek. Er vermittelte an der Kunstgewerbeschule bahnbrechende Ansätze. Fortan lautete die Maxime: individuelles schöpferisches Gestalten statt bloßem Abbilden. Ab 1918 widmete sich Franz Cizek mit Begeisterung dem Expressionismus. Seine Schülerinnen und Schüler mussten Wut, Neid und Trauer in ein dynamisches Formenspiel übersetzen. Auch Kälte und Glut, Geruch und Lärm galt es bildnerisch auszudrücken. Der Kunsterzieher sah darin unmittelbare Äußerungen eines schöpferischen Automatismus.
Schönheit und Stille
Im Museum der Moderne am Salzburger Mönchsberg fand kürzlich eine Zero-Ausstellung statt. "Zero war von Anfang an ein offener Möglichkeitsbereich, und man spekulierte mit der visionären Form der Reinheit, der Schönheit und der Stille. Diese Dinge berührten uns sehr stark. Das war vielleicht auch ein sehr stiller und zugleich sehr lauter Protest gegen den Expressionismus, gegen eine expressiv gesinnte Gesellschaft", schreibt der Zero-Künstler Günther Uecker im Ausstellungskatalog, in dem die Werke der Sammlung Lenz-Schönberg abgebildet sind. Günther Uecker, dessen Kunstwerke Teil der Sammlung Lenz-Schönberg sind, fühlt sich als Avantgardist, wenn auch als einer der letzten.
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Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 19. Juli 2006, 21:01 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Konrad Paul Liessmann, "Spähtrupp im Niemandsland", Zsolnay Verlag, ISBN 3552053034
CD-Tipp
Konrad Paul Liessmann, "Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit", ORF 2008091
Veranstaltungs-Tipp
Ausstellung "Kinetismus", bis 1. Oktober 2006, Wien Museum Karlsplatz,
Ö1 Club-Mitglieder erhalten ermäßigten Eintritt (25 Prozent).
Links
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Wien Museum
Museum der Moderne Salzburg