Wind mit Spätfolgen
Der oder die Luft?
In Vorarlberg heißt die Luft, wenn sie in Bewegung ist, der Luft. In Wien wird der Wiener von Luft und Wind geplagt. Geplagt wird auch der Radfahrer in Wien - von Gegenwind. Das Innenleben des Radfahrers trägt ganz sicher Schäden davon.
8. April 2017, 21:58
An und für sich, finde ich, ist die Luft ein sympathisches Element, ausgesprochen unaufdringlich, so lange sie durchsichtig ist und geruchlos, und vor allen Dingen so lange sie sich nicht bewegt.
Im Vorarlbergischen, wo ich herkomme und wo in jeder Hinsicht ökonomisch gedacht wird, heißt die Luft, wenn sie in Bewegung ist, der Luft. Und während mich zwar, wie schon angedeutet, der Luft als Zustandsform der Luft, also als Wind, seit je sehr leicht aus der Fassung bringt, ist mir doch wenigstens die Bezeichnung, dieser mit sprachlicher Sparsamkeit, durch einfache Geschlechtsumwandlung zustande gekommene Dialektausdruck, bis heute besonders lieb. Der Luft: Draußen in Vorarlberg, wenn ich mich recht entsinne, geht er manchmal, aber manchmal auch nicht.
In Wien dagegen, wo ich lebe und wo die Luft auch Luft heißt, der Wind aber Wind, ist die Luft immer ein Luft. In Wien ist die Luft, außer Haus, nicht anders zu haben als in Form eines permanenten, den überwiegenden Teil des Jahres zudem kalten Gebläses. Es steht für mich außer Zweifel, daß etliche der in Wien ansässigen Gemütskrankheiten, allen voran die chronische Mieselsucht, in diesem Wind ihren Grund haben, und es würde mich nicht wundem, wenn auch in unseren Physiognomien mit der Zeit davon etwas zurückbliebe, etwas Verkniffenes in den Tag für Tag zusammengezogenen Gesichtern - so, wie man es uns als Kinder glauben machen wollte, wenn wir Grimassen schnitten.
Wie dem auch sei; dieser Wind, ob mit oder ohne Spätfolgen, plagt den Wiener in einem fort, und am allermeisten plagt er naturgemäß den Radfahrer. Als hätte nicht gerade er in dieser Stadt schon genug am Hals mit den jähzornigen Autofahrern und der ihn wie einen natürlichen Feind verfolgenden Polizei. Alles in allem sollte man ihm ein Denkmal setzen für seine Leiden: das Denkmal des unbekannten Radfahrers. Stattdessen erfährt er nur Ablehnung seitens all jener, die sich auf andere Weise fortbewegen als er.
Noch um einiges unangenehmer als im Rest der Stadt, und zudem kurios, ist die Situation auf den Brücken über den Donaukanal. Dort bläst nämlich nicht nur ebenfalls ständig der Wind, sondern er kommt auch dem Radfahrer, gleichgültig in welche Richtung der fährt und egal wann, immer entgegen. Es scheint sich so zu verhalten, daß der Wind quer zum Wasserverlauf gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen weht. Jedenfalls kann dort der Radfahrer, wenn er mühsam aus Augenschlitzen gegen den Gegenwind späht, die ihm entgegenkommenden Radfahrer gegen ihren Gegenwind ebenfalls Schlitzaugen machen, sehen; und ein Beobachter, auf einer Parallelbrücke postiert, sähe, im Herbst und im Winter, ganz langsam sich aufeinander zubewegende Radfahrer mit voneinander wegweisenden bzw. langsam sich voneinander wegbewegende Radfahrer mit aufeinander zuweisenden Schalenden: ein absurdes Bild, wie auf Kinderzeichnungen, und fast ein Wunder - wenn auch kein schönes.
Es mag sein, dass man auf Dauer dagegen Muskeln ausbilden kann, eine gewisse physische Resistenz, aber das Innenleben des Radfahrers trägt ganz sicher Schäden davon. Vielleicht kann man es so ausdrücken: Der fortwährend auf den Kopf des Radfahrers hereinbrechende Gegenwind bewirkt mit der Zeit eine Art Erosion seines Wirklichkeitssinns.
Anderen kommt der Verstand aus anderen Gründen abhanden, aus geringeren Anlässen manchmal und wegen schwächerer Winde. Erst unlängst wieder hat mir einer, mit dem ich mich austauschen wollte über das Kanalphänomen, geantwortet, das sei nichts Besonderes, ihm komme auf seinem Fahrrad der Wind immer entgegen, gleich wo in der Stadt. Diesen Unsinn habe ich schon verschiedentlich hören müssen, immer jedoch von ein und derselben Radfahrerkategorie, nämlich den Tempobolzern und Touristen-von-den-Radwegen-Verscheuchern; den Automobilisten unter den Radfahrern, von ihrem Wesen her. Ich gehe davon aus, und ich sage es jedem von ihnen auf den Kopf zu, dass sie, geistig umnachtet, im Geschwindigkeitsrausch, den von ihnen selbst verursachten Fahrt- für Gegenwind halten; und es kommt mir, wenn ich an ihren Irrtum denke, ein irgendwann in der Kindheit aufgeschnappter Spruch in den Sinn, der mich damals beeindruckt hat, ein Abschiedswort unter rauhbeinigen Filmhelden: Auf dass die Winde in deinem Rücken nie deine eigenen sein mögen!
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 15. Juli 2006, 17:05 Uhr
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