Reisen wie die "Mitzi-Tant"?
Nicht touristisch reisen
Sie nennen sich Kultur-Reisende oder Backpacker und wollen sich von Pauschaltouristen unterscheiden. Ihre Art zu reisen sei ja in enger Verbindung mit den Einheimischen, für deren Kultur sie sich interessieren. Mist machen sie jedoch genauso.
8. April 2017, 21:58
Günter Spreitzhofer über Rucksacktouristen
Eines vorneweg: Touristen sind wir alle, die wir uns von unserem Wohnort wegbewegen. Manche Zeitgenossen sehen sich aber lieber als Reisende, denn Tourist wird als Schimpfwort gesehen und mit Hotelburgen an überfüllten Stränden assoziiert. Tenor: Touristen sind immer die anderen!
Beispiel 1: Die Ethnologen
Reisen gehört zu ihrem Beruf, war oft eine Hauptmotivation, das Studium des einstigen Orchideenfachs zu ergreifen. Der gewissenhafte Ethnologe bereitet sich Monate lang auf seine Reise vor. Schon bei der Wahl des Ziels spielen antitouristische Überlegungen eine große Rolle. Soll heißen: je ursprünglicher eine Kultur, je spannender.
Auch wenn der Kulturwandel durch touristische Auswüchse Thema einer Feldforschung sein sollte, ist der Ethnologe nicht als Tourist unterwegs. "Teilnehmende Beobachtung" lautet das Zauberwort, mit dem sich die (angehenden) Forscher aus der Masse des gemeinen Touristen hervorheben.
"Mitzi-Tant" auf Reisen
Das Reisevergnügen der "Mitzi-Tant", wie ein akademischer Reiseleiter die typische Adria-Club-Pauschal-Touristin im Interview klassifiziert, wird fast verdammt: Schließlich interessiere man sich ja da nicht für die Gastkultur, sei ja nicht so neugierig wie die einst als Völkerkundler bezeichneten Wissenschafter und könne demnach auch keine interessanten Fragen an die Menschen stellen, um ja nicht als normaler Tourist wahrgenommen zu werden.
Experten-Einwand
Sich in einem marokkanische Ressort mit dem Koch über Kaiserschmarren zu unterhalten, sei ethnologisch genau so wertvoll, wie mit Berbern das Atlasgebirge zu überqueren, postuliert Michael Jung, einer der Herausgeber des Magazins "Touristen".
Man könne auch in einem Pauschal-Club Augen und Ohren offen halten und interessante Einblicke in die Gastkultur genau so wie in die der Landsleute, also die eigene, gewinnen. "Für mich steht der gepflegte Ressort-Urlaub überhaupt an der Spitze des touristischen Handelns", so Jung, "weit über den so genannten Alternativtouristen!"
Beispiel 2: Der Rucksack und seine Besitzer
"Kaum eine Gruppe spricht überheblicher über ihren Reisestil als die Alternativtouristen", sagt Günter Spreitzhofer, Geograph und Tourismusexperte an der Universität Wien. Den Ausdruck "alternative tourist" werde man selbst in der Suchmaschine Google kaum finden, "denn niemand will diese Bezeichnung."
Auch Traveller genannt, sind die auf angebliche Individualität und nichttouristisches Reisen spezialisierten Backpacker uniformierter als ihnen lieb ist. Wer mit dem Rucksack nach Thailand, Burma oder Vietnam tingelt, ist um die dreißig, aus Mittel- und Nordeuropa bzw. Nordamerika oder Australien, weiß, meist männlich, und Single.
Hauptmotiv: Flucht in eine andere, exotische Welt
Traveller wollen sich von der touristischen Masse abgrenzen, sind aber selbst schon längst Mainstream. Mit dem Lonely-Planet-Guide, einer Art Backpacker-Bibel, im survival-mäßig gefüllten Rucksack, nehmen sie die gut funktionierende Reise-Infrastruktur vor Ort in Anspruch. Sie wollen Abenteuer, lassen sich aber in Bangkok an der Tür des Gringo-Hotels von Taxis abholen, die sie zu den Luxus-Bussen an die kambodschanische Grenze bringen.
Laut Tourismus-Wissenschafter Günter Spreitzhofer ein Paradoxon ersten Grades, wie er in seinem Abhandlung "Drifting and Travelling: 30 Jahre Rucksacktourismus in Südostasien. (Kein) Beitrag zur Entwicklung?" ausführt.
Banana Pancake und Müsli
"Fun and Friends stehen vor der Befassung mit dem Fremden", so Spreitzhofer. "Die gängige elitäre Selbsteinschätzung als Anti-Touristen scheint somit kaum haltbar. Auch die aufgeklärten, überdurchschnittlich gebildeten, globalisierten Rucksackreisenden der Gegenwart sind 'nur' Touristen, die Drittwelt-Gesellschaften unbewusst vielfach nachhaltiger zu prägen imstande sind als organisierter, punktuell begrenzter Pauschaltourismus" - individuelle Freiheit und grenzenlose Mobilität als Postulat der Postmoderne.
Nachsatz: "Travelling driftet einer ungewissen Zukunft entgegen." Vielleicht sind Touristenghettos in der Dritten Welt doch die sanftere, touristische Variante?
Hör-Tipp
Moment, Dienstag, 11. Juli 2006, 17:09 Uhr
Download-Tipp
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Links
Promedia - Tourismus in der "Dritten Welt"
Touristen - Magazin von der Welt
Lonely Planet
Buch-Tipp
Herbert Baumhackl, Gabriele Habinger, Franz Kolland, Kurt Luger (Hrsg.), "Tourismus in der 'Dritten Welt'. Zur Diskussion einer Entwicklungsperspektive", Promedia, ISBN 3853712568