Auf den Spuren von Wolfgang und Alfred Döblin
Die verlorene Gleichung
Das schwierige Verhältnis zwischen dem Schriftsteller Alfred Döblin und seinem Sohn, dem Mathematiker Wolfgang Döblin, macht Marc Petit zum Thema seines Buches, das weder Roman noch Dokumentation ist, aber dennoch sehr interessant ist.
8. April 2017, 21:58
Am 25. Februar 1940 hat Wolfgang Döblin, Mathematiker und Soldat der französischen Armee, in der Pariser Akademie der Wissenschaften ein umfangreiches Manuskript deponiert. Am 20. Juni 1940 erschießt sich Döblin, um der Gefangennahme durch die deutschen Truppen zuvorzukommen.
Entgegen den Usancen der Akademie wird der bis 2040 gesperrte Umschlag schon im Mai 2000 geöffnet. Für die kleine Fachwelt der Wahrscheinlichkeitstheoretiker enthält er eine Sensation: Der berühmte Moskauer Mathematiker Kolmogoroff hat in seiner Kettenlehre zwei Probleme offen gelassen, für die Döblin eine originelle Lösung hat, die erst Jahrzehnte später von japanischen Mathematikern gefunden worden war.
Doppelporträt Vater und Sohn
Wolfgang Döblin war der Sohn des als Jude und "Linker" ebenfalls exilierten Schriftstellers Alfred Döblin. Das ist, zunächst einmal, eine für Laien überraschende Information, aber noch keine erzählenswerte Geschichte. Marc Petit, Literaturwissenschafter an der Universität Tours, Übersetzer Trakis und Rilkes und Verfasser mehrerer Romane, hat sich auf die Spurensuche gemacht und ein erstaunliches Buch geschrieben.
Es ist das Doppelporträt eines Vaters und eines Sohnes, eines Vaters, der sich unentwegt selbst kommentiert hat, und eines fast autistischen Sohnes, der kaum Selbstzeugnisse hinterlassen hat, es ist - vor allem in den Teilen über die Döblinsche Ehe, die Exilexistenz und die Schwierigkeiten der Rückkehr nach Deutschland - eine gelungene Ergänzung der bisherigen Döblin-Biografik und letztlich ein buntes Zeitbild zwischen Weltkrieg, Inflation, dem Aufstieg des Nationalsozialismus mit seiner Bedrohung für jüdische Menschen, und schließlich jener Bundesrepublik, in der kein Verlag den "Hamlet" des französischen Offiziers Döblin drucken wollte.
Versöhnung im Buch
Vor allem aber hat sich Petit ein intellektuell anspruchsvolles Ziel gesetzt: Er will in seinem "fiktiven, irrealen Werk Vater und Sohn miteinander versöhnen, er will, dass die beiden, "die zu Lebzeiten nie die passenden Worte gefunden haben, Frieden schließen."
Damit meint er allerdings nicht nur die Ebene des privaten Konflikts, an dem es wohl in der Familie Döblin mit ihren zahlreichen Geheimnissen und Tabus keinen Mangel gab.
Wenn zwei Genies aufeinander stoßen oder sich ignorieren, Romanautor der eine und Mathematiker der andere, jeder völlig seiner Kunst verschrieben und von ihr verzehrt, dann stehen sich nicht nur zwei Menschen gegenüber, sondern das, was man einst hochtrabend die schöne Literatur und die Wissenschaft nannte.
Essayistisch-spekulative Brücke
Mathematiker können Romane lesen, aber die Spitzenmathematik, in der Wolfgang brillierte, bleibt einem Schriftsteller doch zwingend verschlossen. Gewiss, Vater und Sohn hatten ein gemeinsames Thema: den "Zufall", der Franz Biberkopf im Roman "Berlin Alexanderplatz" zu Fall brachte, und den Wolfgang erforschte.
In einem beeindruckenden Versuch, der sich bemüht essayistisch-spekulativ eine Brücke zwischen dem Denken des Vaters und des Sohnes herzustellen, versucht er, dessen "Schwindel erregend" mathematisches Denken für Laien literarisch kommunizierbar zu machen. Er beschreibt uns Wolfgang Döblin als eine Figur wie den jungen Glenn Gould oder das Schachgenie Bobby Fisher, als einen, der seinem Fachgebiet verpflichtet war und dennoch dissidente Wege ging.
Am Ende dieser Reflexion wird uns Wolfgang Döblin als eine Art mathematischer Dichter vorgestellt, der seinen "Stil" hatte und dessen Lösungen auch ästhetischen Regeln folgten. Petit zieht keinen zwingenden Schluss, doch gibt es für ihn gemeinsame Strukturen der Inspiration und jede dissidente Kreativität folgt vergleichbaren Regeln, auch die von Alfred und Wolfgang Döblin.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Marc Petit, "Die verlorene Gleichung", Auf den Spuren von Wolfgang und Alfred Döblin, Eichborn Verlag, ISBN 3821857498