Hölle Internat
Warum du mich verlassen hast
Das oft tabuisierte Thema der Erziehungsmethoden in katholischen Internaten hat der "FAZ"-Kritiker Paul Ingendaay für seinen ersten Roman gewählt. Zahlreiche Anleihen bei bekannten Büchern schmilzt er dabei zu einem eindringlichen Ganzen zusammen.
8. April 2017, 21:58
In eine fremde oder auch befremdliche Welt entführt uns Paul Ingendaay in seinem ersten Roman, in die der katholischen Privatschul-Internate. Und Ingendaay muss es wissen: Der Literaturredakteur und Spanien-Korrespondent der "FAZ" ist selbst Absolvent eines dieser Institute.
Die Unmöglichkeit meiner Rettung erschien mir so augenfällig, dass kein Funke von Hoffnung in meinem Inneren zurück blieb.
Dieses Zitat aus Daniel Defoes "Robinson Crusoe" wird in Ingendaays Roman zu einem wiederkehrenden Leitmotiv. Zur finalen Erkenntnis, die der Protagonist und Defoe-Fan Marko immer aufs Neue konstatieren muss.
Kalte Schlafsäle, kalte Erzieher
Der 15-jährige Zögling hat zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre "Collegium Aureum" hinter sich. Konkret: kalte Schlafsäle, kaltes Wasser, gefühlskalte Erzieher. Nicht zuletzt kaltes Essen,...
...das du nicht einmal aus der Ferne fotografieren möchtest. Montag war noch der beste Tag, weil die Sachen noch frisch waren. Das heißt, sie waren frisch, als sie angeliefert wurden. Stunden später hatten sie sich in Collegiumsfraß verwandelt, als hätten sie neun Tage lang herum gelegen, und wären am zehnten ohne Gegenwehr vergammelt.
Lakonischer Pubertätsjargon
Paul Ingendaay geht seinen Roman durchaus mit Humor an. Dafür sorgt der ich-erzählende Marko mit seinem lakonischen Pubertätsjargon. Indes ist die Sache so spaßig nicht: Vor allem die schlagenden Erzieher im katholischen Internat widersprechen massiv heutigen zivilisatorischen Mindeststandards. Im "Collegium Aureum" sind sie nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
"Machen wir uns nichts vor", sagte Köhler zu Siebenwirth. "Gewalt gehört zur katholischen Kirche wie Hostie und Weihrauch. Nehmen Sie der Kirche die Gewalt, und sie stirbt. Nehmen sie der Kirche ihre pragmatische Nähe zu Folter, ihre Bereitschaft, auszupeitschen und Knochen zu brechen... He, Siebenwirth, was ist? Sie werden doch nicht blass!"
Solches legt Ingendaay einem der Lehrer in den Mund. Zumindest ein beachtlicher Rest der kirchlichen Brutalität vergangener Jahrhunderte lebt in der katholischen Internatserziehung bis heute fort, so Paul Ingendaay.
Das "Mädchenproblem"
Die beklemmende, oft schon "sadistisch" zu nennende Grundstimmung im Internat ist nicht das einzige Problem des 15-jährigen Marko. Da gibt's noch "das Mädchenproblem": An der reinen Bubenschule gibt's keine Mädchen. Der Ausgang in eines der umliegenden Dörfer ist auf magere zwei Stunden am Nachmittag beschränkt. Wie soll man da Mädchen kennen lernen? Die Leseratte Marko findet einmal mehr nur bei Defoe Zuflucht:
Kein Funke von Hoffnung blieb in meinem Inneren zurück.
Paul Ingendaay ist Literaturredakteur, und das merkt man seinem Buch an: Es strotzt nur so von Zitaten und Querverweisen. Hebbel, Musil, Kierkegaard, Goethe, Dostojewsij sind nur einige der Autoren, die Marko gerne liest.
Gelungene Zitate-Mixtur
Damit das Ganze wirklich zu einem Roman wird, mischt Ingendaay noch ein wenig Umberto Eco hinzu. Ein mysteriöses "Buch der Ordnungen" taucht auf, Inhalt: geheime Vorgänge unter den Patres und Präfekten der Klosterschule. Der anonyme Verfasser des Konvoluts ist offenbar jemand mit Einblick. Ein unerwarteter Todesfall macht den Internatsroman um pubertierende Jünglinge dann fast schon zum Krimi.
Zuletzt schmilzt Ingendaay all die Anleihen zu einem höchst gelungenen Ganzen zusammen. Zu einem Roman, der sich spannend wie auch witzig liest, und der ein oft tabuisiertes Thema - das der Erziehungsmethoden in katholischen Konfessionsinternaten - eindringlich und glaubwürdig aufgreift.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipp
Kulturjournal, Freitag, 23. Juni 2006, 16:30 Uhr
Buch-Tipp
Paul Ingendaay, "Warum du mich verlassen hast", Verlag SchirmerGraf, ISBN 3865550258