Der letzte Faden, an dem alles hing - Teil 1
Fußballdress und Straßenmode
Nirgendwo ist die seltsame Beziehung zwischen Fußballkleidung und Straßenmode so ausgeprägt und mit sozialer Bedeutung beladen wie in Großbritannien. Denn nur in England kann jemand auf die Idee kommen, zu einem Begräbnis im Fußball-Dress aufzutauchen.
8. April 2017, 21:58
Auf dem Londoner Asphalt liegt eine weggeworfene Zeitung. Die vom Wind zufällig aufgeschlagene Seite zeigt das Foto einer Trauerfamilie. Eine der Frauen am offenen Grab trägt ein blaues Trikot mit Schriftzug: "Fly Emirates", das originale Oberteil vom Heimdress des FC Chelsea. Ein Zeichen des hohen Stellenwerts, den das Spiel in seinem Erfinderland hat - aber noch weit mehr als das, wie wir ausgerechnet von einem Franzosen erfahren werden.
Philippe Auclair, Songwriter, Sänger und Weinkenner, ist im Brotberuf Fußballkorrespondent in London, unter anderem für das französische Magazin "France Football". Also ist er kenntnisreich und distanziert genug, um ein Phänomen zu erklären, das nirgends so ausgeprägt und mit sozialer Bedeutung beladen ist wie in Großbritannien: die seltsame Beziehung zwischen Fußballkleidung und Straßenmode.
Bei unserem Treffen macht Auclair zunächst einen Exkurs in die Historie. Der legendäre Vereinstrainer Herbert Chapman, erklärt er, sei der Urvater des Fußballdresses, wie wir ihn heute kennen: "Er veränderte alles. Vor ihm wählte man die Farbe der Trikots etwa danach, an welche Universität man gegangen war. So trägt zum Beispiel Le Havre, mein französischer Stammverein, dunkel- und hellblau, weil das die Farben von Oxford und Cambridge waren und der Club 1872 von Leuten gegründet wurde, die dort studiert hatten. Athletic Bilbao hat, wie der FC Sunderland, ein rot-weiß gestreiftes Oberteil, weil der Club auf Eisenbahn- und Minenarbeiter zurückgeht, die aus Sunderland eingewandert waren."
Die oft bis heute vorherrschende Farbwahl großer Traditionsclubs verlief in jenen Frühzeiten also keineswegs anhand modischer Kriterien. Und der Schnitt - knielange Hosen, gewebte Hemden - orientierte sich am Vorbild der Rugby-Kleidung. "Doch als Herbert Chapman vor etwa siebzig Jahren Trainer des FC Arsenal wurde, begann eine Revolution", sagt Auclair.
Chapman erfand nicht nur den traditionellen Arsenal-Look - rote Trikots mit langen weißen Ärmeln -, nachdem ihm bei einem Match ein Zuschauer aufgefallen war, der einen roten Pullunder über einem weißen Hemd trug. Er hatte auch die phänomenale Idee, Zahlen auf die Rücken der Spielertrikots nähen zu lassen.
"Die Zahlen auf den Trikots ermöglichten ihm, seine Spieler zu identifizieren und immer ihre taktische Aufstellung zu beobachten", erklärt Auclair: "Alles ging von seiner Vision aus, wie ein Fußballdress auszusehen hatte, und für die nächsten zwanzig Jahre sollte sich daran nicht viel verändern, bis auf einmal ausländische Einflüsse wie die Brasilianer mit ihren kurzärmeligen Hemden ins Spiel kamen.
Bei den Weltmeisterschaften der fünfziger Jahre begann diese Weiterentwicklung, und in den Sechzigern kam schließlich die Geburtsstunde des modernen Fußballdresses. Das erste, was sich veränderte, war der Kragen. Anfangs gab es die normalen Rugby-Kragen zum Schnüren, dann Knöpfe und schließlich den Rundkragen. Ein gutes Beispiel dafür wäre etwa das wunderschöne Manchester-United-Trikot der frühen Sechziger, das schnell von den anderen Teams übernommen wurde."
Neben Vereinsfarben und Nützlichkeit kommen nun auch modische Kriterien ins Spiel. Einen kurzen Moment lang spiegelt der modernisierte Fußballdress den Zeitgeist wider. Das taillierte rote Trikot mit schmalen Bündchen der englischen Weltmeister-Elf von 1966 ist immer noch ein Klassiker der Sixties-Mode.
Das Verhältnis zu Körper und Sexualität wurde offener, die Fußballerhosen - parallel zu den Röcken der Mädchen - wurden kürzer. "Der Look der Fußballdresse ging Hand in Hand mit den Entwicklungen der englischen Gesellschaft zu jener Zeit. Vergessen wir nicht, dass in England bis 1959 die Lebensmittel rationiert waren", erinnert Auclair, "bis in die Sechziger hinein steckte England in den Vierzigern fest. Nichts veränderte sich. Und plötzlich wurden die Dinge lockerer. Die Fußballtrikots verloren ihre Kragen. Auf einmal wurden auf den Straßen und den Fußballfeldern T-Shirts getragen. Es beginnt die Ära der Gesamtschule. Die Privatschulen, die einst die Rugby-Teams hervorbrachten, sind nicht mehr das einzige, was zählt. Die Arbeiterklasse hat ihren Platz im Mainstream erobert, sei es durch die Beatles oder die Fußballer George Best oder Bobby Charlton."
Dieser Text entstammt einer Kooperation mit "Anstoss", der Zeitschrift des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006; ein Projekt von André Heller.
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