Seine atheistischen Thesen und Gegenthesen der Kritiker

Sigmund Freud und die Religion

Für den Vater der Psychoanalyse ist Religion nicht ein Produkt von Erfahrung oder Resultat eines Denkprozesses. Sigmund Freud hält religiöse Lehren für "Illusionen", für "Erfüllungen der ältesten, dringendsten Wünsche der Menschheit".

Expertenmeinungen über Freuds Verhältnis zur Religion

In welchem Verhältnis stehen Glaube und Psychotherapie nach Sigmund Freud? Was waren die Gründe seines Atheismus? Worin besteht das bleibend berechtigte Anliegen seiner Religionskritik? Fragen, denen "Logos" anlässlich des Freud-Jubiläumsjahres nachgegangen ist.

Religionslehren nur Illusionen

"Religiöse Vorstellungen sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, sondern Illusionen, Erfüllungen der ältesten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche.“

Das schreibt der Vater der Psychoanalyse in seiner 1927 erschienenen Schrift "Die Zukunft einer Illusion“. Für Freud ist Religion nicht eine Antwort auf eine ursprüngliche Erfahrung oder das Resultat eines Denkprozesses, sondern ein System von Lehren - eine Weltanschauung.

Verzicht auf "überhöhten Vater-Gott"

Religion entspringt nach Freud mehreren Quellen: einer infantilen Vater-Sehnsucht, dem Bedürfnis vor den Gefahren des Lebens geschützt zu werden sowie dem Wunsch nach Gerechtigkeit in einer ungerechten Gesellschaft und nach Verlängerung der irdisch-endlichen Existenz.

Der Mensch wird nach Freud erst dann reif, wenn er sich der Realität stellt und sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Dies aber bedeutet Verzicht auf einen Glauben an einen - wie Freud es sieht - "überhöhten Vater-Gott“. Der Glaube an die Wissenschaft gebe mehr Halt als die Religion und werde sie eines Tages auch ersetzen, meint der Psychoanalytiker.

Zwangshandlungen und Religionsübungen

So heißt der 1907 erschienene Artikel, in dem sich Freud erstmals öffentlich über die Religion äußert. Er beschreibt sie darin als "universelle Zwangsneurose". Spätestens damit ist klar: Freud selbst lehnt Religon als Weltanschauung ab.

Davon zu unterscheiden ist sein Verhältnis zur Religion als Psychoanalytiker. So ist dem Briefwechsel mit dem Pastor und Psychoanalytiker Oskar Pfister zu entnehmen, dass seine Schrift "Die Zukunft einer Illusion“, in der er Religion ablehnt, keinen Bestandteil des analytischen Lehrgebäudes darstellt:

Es ist meine persönliche Einstellung, die mit der bekannten atheistischen Einstellung vieler Nicht- und Voranalytiker zusammentrifft und gewiss von vielen braven Analytikern nicht geteilt wird.

Drei-Stadien-Gesetz als atheistische Grundlage

Sigmund Freud entwickelt seinen Atheismus im Rahmen seiner psychoanalytischen Geschichtstheorie. Deren philosophischer Hintergrund ist das Drei-Stadien-Gesetz von Auguste Comte. Nach Comte entfaltet sich die menschliche Kulturgeschichte in drei Entwicklungsschritten: Am Anfang steht das theologisch-fiktive, danach das philosophisch-abstrakte und am Ende das positiv-reale Stadium. In diesem haben sich die Menschen von den Göttern verabschiedet und wenden sich den sinnenhaften Tatsachen zu.

Der Psychoanalytiker würdigt die Religion zunächst in ihrem Anteil an der menschlichen Kulturentwicklung. Denn: "Sie fordert den Verzicht auf eigensüchtige, sozialschädliche Triebe". Sein Hauptargument gegen die Religion sind nicht die Verbote, die die Religion aufstellt, sondern die Übertreibungen derselben und dass sie auf berechtigte Widerstände mit Denkverboten antwortet.

Die beiden Grundthemen Freuds

Sigmund Freud bestimmt den Menschen so, dass sein Wesen in der Triebbefriedigung besteht. Der Mensch strebt nach einem Maximum an Lustgewinn. Das friedliche Zusammenleben mit anderen Menschen erfordert laut Freud nun vom Bewusstsein eine mühsame Aufgabe: Das Ich muss die eigenen biologischen Triebansprüche und Bedürfnisse mit den sozialen Forderungen und moralischen Normen der Außenwelt in Balance bringen. Freud wollte also, dass der Mensch seine Triebhaftigkeit zur Kenntnis nimmt, sie nicht verleugnet und ins Unbewusste verdängt, weil es dann in neurotischer Form wiederkehrt.

Die Triebhaftigkeit und die geistigen Fähigkeiten des Menschen - diese beiden Grundthemen Freuds fänden sich aber auch bereits in der Bibel im dritten Kapitel der Genesis - der Sündenfall-Erzählung. Darauf verweist die evangelische Religionspsychologin Susanne Heine: "Den Menschen, die vom Baum der Erkenntnis essen, gehen die Augen auf; das heißt, sie kommen zur Vernunft. Ihnen wird zugleich bewusst, dass sie nackt sind: Sie erkennen sich als sexuell triebhafte Wesen".

Kritikansätze

Sigmund Freud, der die Kulturleistung der Religion zwar einerseits würdigt, lehnt sie andererseits aber als "Illusion" und Ausdruck menschlichen Wunschdenkens ab. Und hier setzt die Kritik an Freuds Religionsverständnis an. So wie er den Menschen als bedürftiges Triebwesen beschreibt, so sieht er auch in der Religion einzig die Funktion einer Bedürfnisbefriedigung.

Sigmund Freud hat also eine Bedürfnis-Religion vor Augen. Derzufolge haben die einen Sehnsucht nach einem höheren Wesen, das ihnen die Welträtsel erklärt, das Schutz gibt, Sinn verleiht und für ausgleichende Gerechtigkeit bürgt. Aber die reifen Persönlichkeiten brauchen nach Freuds Überlegungen das nicht mehr und haben gelernt, sich mit den Frustrationen des Lebens realistisch auszusöhnen. Der Wiener Philosoph und Freud-Kenner Augustinus Wucherer-Huldenfeld kritisiert gerade diese Bedürfnis-Religion als eine Verfallsform des ursprünglichen Glaubens.

Freuds Thesen als künftige Chance

Bei der Aufklärung von pathologischen Formen des Religiösen leistet Sigmund Freud als Religionskritiker dennoch einen unverzichtbaren Dienst. Religion kann nach seinen Thesen infantile Illusion, Ausdruck einer Neurose und psychischen Unreife sein. Aber - und das ist der entscheidende Kritikpunkt an Freuds Konzeption: Das muss sie nicht sein und ist auch nicht die urspüngliche religiöse Erfahrung.

Freud ging es darum, dass die Wahrheit des Menschen ans Licht kommt. Sein Wesen muss aus dem Realitätsbezug verstanden werden. Auf diesem Hintergrund könnte sich aber die Frage nach der Religion neu stellen: Wie kommt es, dass der Mensch ein solches Wahrheits-Wesen ist, dem jeden Augenblick neu und einmalig Zeit zu sein geschenkt ist?

Hör-Tipp
Logos, Samstag, 17. Juni 2006, 19:05 Uhr

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Links
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