Perspektiven von Dorothee Sölle und Carl Amery
Auswege aus dem globalen Kapitalismus
So unterschiedlich beide waren, eines haben die evangelische Theologin Dorothee Sölle und der katholische Schriftsteller Carl Amery gemeinsam: Das Wissen, dass eine bessere Welt nur aus den Träumen und aus dem Engagement Vieler entstehen kann.
8. April 2017, 21:58
Carl Amerys Schuldsuche der ökologischen Krise
Sie eine Theologin - er ein politischer Schriftsteller. Beide Deutsche - beide ein Ziel, das sie mit Leidenschaft verfolgten: eine menschlichere Zukunft. Ihre Stimmen fehlen heute in der öffentlichen Diskussion. Was bleibt, sind ihre Bücher und elektronische Aufzeichnungen von Vorträgen und Interviews.
Den Himmel "erden"
Dorothee Sölle starb im 77. Lebensjahr, hatte ein erfülltes Leben, brachte Kinder auf die Welt, zog sie groß, stellte neue Weichen in der Theologie, schrieb Bücher, wurde von der Polizei wegen ihrer Aktivitäten in der Friedensbewegung verhaftet und vor Gericht gebracht u. s. w. - ihr Leben und Denken war aber immer nur von einem bestimmt - von der befreienden Kraft des Evangeliums. Ihre Endlichkeit und Sterblichkeit machte ihr nie Angst:
"Eine Spiritualität der Schöpfung setzt voraus, dass wir unser Ego, unseren Ich-Wahn loslassen und unsere Endlichkeit akzeptieren. Wer in der Lage ist, das Ego loszulassen und über die Nasenspitze des Egoismus zu blicken, wird wahrnehmen, dass alles auf dieser Erde voneinander abhängig ist. Auch das gehört zu einer neuen Spiritualität", sagte Sölle.
Für die deutsche Theologin hat eine neue Spiritualität klare Konturen. Das entscheidende Kriterium dafür: "den Himmel zu erden". Denn nur wenn Himmel und Erde, Materie und Geist zusammenkommen, könne sich eine neue lebendige Spiritualität entwickeln".
Es ist Zeit, sich zu befreien
Dorothee Sölle vertrat eine Theologie, die sich vor allem auch durch eine Entmythologisierung der Bibel auszeichnete und ohne die Vorstellung eines persönlichen Gottes auskam:
"Gott hat keine anderen Hände als unsere. Es ist Zeit, andere Wünsche zu haben - Wünsche des Lebens. Es ist Zeit, sich aus einer patriarchal dominierten Kultur des Todes zu befreien und die lebendige Geistin Gottes zu suchen. Denn Gottes Geist heißt in der hebräischen Bibel 'ruah' und ist meistens weiblich. Der Atem Gottes befähigt, Mut zu haben - Mut dazu, Macht und Besitzansprüche zugunsten der Freiheit der Kinder Gottes aufzugeben".
Der Kulturrevolutionär Carl Amery
Erst im Vorjahr ist der deutsche Umweltaktivist und Schriftsteller Carl Amery im Alter von 83 Jahren verstorben. Sein ganzes Leben lang war er politisch aktiv: Mitglied der Gruppe 47, Präsident des deutschen PEN-Zentrums, Mitbegründer der Grünen Partei Deutschlands sind nur einige Stationen in der Laufbahn des Deutschen, der - wenn es um Friedenspolitik, globale Gerechtigkeit oder Ökologie ging - immer erster Ansprechpartner war.
Carl Amery ging es um nichts weniger als um eine Kulturrevolution: "Die Sache ist ganz einfach: Eines der zentralen Probleme der Welt von heute ist der hohe Energieverbrauch. Gelänge es zum Beispiel, auf den Dächern von Kirchen Solarzellen zu montieren oder überhaupt die Kirchen zu einem ökologischen Handeln zu motivieren, könnte sich wirklich etwas verändern. Ansätze dazu gibt es bereits: nicht nur im Ökologie-Bereich, sondern auch in der Ökonomie. Fair gehandelte Waren wie Kaffee, Bananen, gerecht entlohnte Kleidung - alles das gibt es bereits. Es bedarf nur einer Entscheidung".
Ist der globale Kapitalismus noch aufzuhalten?
Carl Amery hat sich in seiner Kritik nie ein Blatt vor dem Mund genommen. Die ökologische Krise, auf die die Erde zusteuere, sei nicht vom Himmel gefallen oder von selbst entstanden, meinte er. Die Krise hänge mit bestimmten Vorstellungen der Menschen über sich selbst und die Welt zusammen:
"Die große Blase wird nicht einfach platzen, sondern durch Rezessionen schrumpfen. Die Befürchtung, dass es durch globale Ungleichheiten zu einer Rezession kommt, ist nicht aus der Luft gegriffen. Die einzigen, die den Ausgang aus dieser Situation - den Global Exit - noch finden könnten, sind die Kirchen, wenn sie sich auf den Auftrag des Evangeliums besinnen", meinte er und nannte die lateinamerikanische Befreiungskirche als Beispiel für den Exodus aus dem "Sklavenhaus des globalen Kapitalismus".
Was Carl Amery an den christlichen Kirchen - an den Hirten wie an vielen Gläubigen - kritisierte, ist ihre Weigerung, Verantwortung für ihre Arbeit und für ihren Konsum zu übernehmen: "Zwar ist man fromm, doch das beschränkt sich aufs Individuelle und Private. Als Christ kann man sich nicht durch den Taufschein oder ein Glaubensbekenntnis legitimieren, sondern durch Handlungen, durch eine Lebenspraxis, die sich für den Frieden, für die Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzt".
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Imago, Montag, 5. Juni 2006, 0:05 Uhr
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Links
Dorothee Sölle
Wikipedia -Carl Amery