Deutsche Emigranten beim US-Geheimdienst
Die Ritchie Boys
Christian Bauer und Rebekka Göpfert zeigen in ihrem Buch die Geschichte einer Gruppe junger Männer im Zweiten Weltkrieg auf. Sie waren den Nazis entkommen. In Camp Ritchie, Maryland, bereiteten sie sich auf ihre Art von Gegenschlag vor.
8. April 2017, 21:58
Viele deutsche und österreichische Emigranten, denen die Flucht in die USA gelungen war, wurden Spezialisten beim US-Geheimdienst. Bevor sie zurück an die deutsche Front geschickt wurden, absolvierten sie eine Schule für Propaganda, Aufklärung und psychologische Kriegsführung - in einer der seltsamsten und geheimsten Einrichtungen der US-Army während des Zweiten Weltkriegs: in Camp Ritchie, das den jungen Rekruten auch den Namen gab: "die Ritchie Boys".
Idyllische Blue Ridge Mountains
Für seinen Dokumentarfilm zum Thema und das Buch ist Christian Bauer nach Amerika gereist, um dieses wenig bekannte Kapitel der amerikanischen Vergangenheit zu erforschen: die Geschichte von Camp Ritchie. Benannt nach einem früheren Gouverneur von Maryland, liegt das Lager in den idyllischen Blue Ridge Mountains, nicht weit von Washington D.C. entfernt.
Bauer hat sich auf die Spuren noch lebender Ritchie Boys geheftet, sie ausfindig gemacht und - was nicht immer ganz leicht war - nach ihren Kriegserinnerungen befragt: Si Lewen und Fred Howard, Hans Spear, Guy Stern und acht weitere, aus Wien, Berlin und Düsseldorf, aus Leipzig und Hildesheim. Heute zwischen 82 und 89 Jahre alt, zeigten sie sich im Interview hellwach und nicht selten recht temperamentvoll, offenbarten Witz, aber auch tiefe Verletztheit.
Enemy aliens
Als sie vor mehr als 60 Jahren glücklich in Amerika ankamen, galten sie als enemy aliens, als feindliche Ausländer. Die meisten waren Juden, konnten kaum Englisch und stießen auf Misstrauen. Sie wollten ihre Solidarität mit der neuen Heimat bekunden und gegen die Nazis kämpfen; das aber erwies sich als schwierig, verfügten viele doch weder über eine militärische Ausbildung, noch über die amerikanische Staatsbürgerschaft.
Und so kamen Howard, Stern und Co. in das 1942 zum Military Intelligence Training Center umgewandelte Camp Ritchie. Dort wurde nicht nur eine militärische Grundausbildung absolviert. "Psychological warfare" stand auf dem Lehrplan, psychologische Kriegsführung: Sammeln von Informationen über den Feind, Entwickeln von Propagandamaterial, Trainieren von Verhörmethoden. Bis zum Kriegsende wurden hier 3.000 Soldaten zu Ritchie Boys.
In prekären Situationen
Gelegenheit, das in Camp Ritchie Gelernte auch in der Praxis zu erproben, sollten die jungen Soldaten schon bald bekommen. Am D-Day, am 6. Juni 1944, landeten die Ritchie Boys zusammen mit anderen alliierten Einheiten in der Normandie. Ihre Aufgabe war es, Kriegsgefangene zu verhören, Informationen über Truppenstärke, Kommandostruktur und Kriegstaktik des Gegners zu ermitteln und weiterzuleiten, durch gezielte Falschinformationen den Feind zu demoralisieren.
Als deutschstämmige Amerikaner an der Front, gerieten die Ritchie Boys oft in prekäre Situationen. Sie wurden von den eigenen Truppen für Feinde gehalten, gerieten in friendly fire oder kamen in Kriegsgefangenschaft. Für die, die mit dem Leben davonkamen, war das alles weniger schlimm als die späte Gewissheit um das Grauen des Holocaust. Ritchie Boys waren, wie sie erst jetzt erfahren sollten, nicht selten die letzten Überlebenden ihrer Familien.
In Vergessenheit geraten
Zurück in den Staaten, starteten die Ritchie Boys eine zivile Karriere - als Wissenschaftler, Juristen oder Geschäftsleute. Guy Stern wurde Germanistik-Professor, Si Lewen Maler, der bis heute in seinen Bildern die Schrecken des Krieges thematisiert, den Massenmord der Nazis.
Die Ritchie Boys gerieten in Vergessenheit - obwohl Camp Ritchie auch nach dem Krieg, freilich in anderer Funktion, weiterexistierte; obwohl es immer wieder prominente Ritchie Boys gab, die in ihren Erinnerungen auch von ihrer Geheimdienstvergangenheit sprachen, Schriftsteller wie Klaus Mann, Stefan Heym oder Hans Habe.
Wie ein Märchen aus ferner Zeit
In Zeiten, in denen militärische Power und Siegerwillkür strategisches Denken und Humanität zu verdrängen drohen, siehe Irak-Krieg und Abu Graib, mutet eine Geschichte wie die der Ritchie Boys wie ein Märchen aus ferner Zeit an: Kriegsunerfahrene Nobodys werden zu gewieften Geheimdienstlern, enemy aliens zur militärischen Elite, vertriebene Intellektuelle zu mutigen Befreiern. Das in Erinnerung gerufen und sachlich und unprätentiös dargestellt zu haben, ohne Anekdotenverliebtheit, Heldenverklärung und überflüssige Kommentare, ist das Verdienst von Christian Bauer und seiner Co-Autorin Rebekka Göpfert.
Camp Ritchie gibt es nicht mehr. Noch viele Jahre von der amerikanischen Armee genutzt, wurde das Camp in den 90er Jahren still gelegt.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
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Buch-Tipp
Christian Bauer, Rebekka Göpfert, "Die Ritchie Boys. Deutsche Emigranten beim US-Geheimdienst", Verlag Hoffmann und Campe