Warum wir der Kultur nicht entkommen
Der Konstruktivist Siegfried J. Schmidt
Sein Name wird an vielen Universitäten ehrfürchtig genannt. Ob Kommunikations- oder Literaturwissenschaft, Soziologie oder Philosophie: An seinen Publikationen kommt man nicht vorbei. Schmidt steht für Komplexität und Konstruktion.
8. April 2017, 21:58
Wie der Philosoph zum Konstruktivismus kam
1940 in Jülich, in Nordrhein-Westfalen geboren, studierte Siegfried J. Schmidt Philosophie, Germanistik, Linguistik, Geschichte und Kunstgeschichte an verschiedenen deutschen Universitäten, machte eine klassische Universitätskarriere und wurde 1971 Universitätsprofessor - auch wenn dieser Berufswunsch für ihn als Kind nicht an erster Stelle stand.
Schmidt wollte Maler werden, doch sein Vater war dagegen. Etwas "Ordentliches" wie Volksschullehrer mit gesicherter Altersvorsorge sollte aus dem Kind werden. Der Gang auf die Uni war der Kompromiss. Porträts von alten Häusern und Damen hat Schmidt nebenbei angefertigt, um sein Studium zu finanzieren.
Über die Kunst zur Philosophie
Über den Symbolismus und die Abstraktion hat Schmidt in den 1960er Jahren den Weg zur konkreten Poesie und zur visuellen Dichtung gefunden, um so Sprache auch künstlerisch, nicht nur philosophisch und linguistisch betrachten zu können.
In den 1970er Jahren war Schmidt in Deutschland einer der ersten Vertreter der so genannten Texttheorie und gilt als Erfinder der empirischen Literaturwissenschaft. In seiner Habilitationsschrift "Bedeutung und Begriff" hat er sich mit der Frage nach der Bedeutung von sprachlichen Zeichen und deren Verwendung auseinandergesetzt - es geht ihm um die Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Weltwahrnehmung.
Der Berg ruft
Siegfried J. Schmidt, dessen Mutter aus Kärnten stammt, lebt in Münster und verbringt jedes Jahr einige Wochen in Südtirol. Hier im kleinen Ort Welschnofen in den Dolomiten besitzt er ein ebenerdiges Appartement. Von seiner Wohnung aus kann er nicht nur ein wunderschönes Bergpanorama sehen, sondern einen ganz bestimmten Berg, der es ihm besonders angetan hat: den Latemar.
In dieser Gegend befindet sich auch König Laurins berühmter Rosengarten, den niemand sehen kann, der aber am Abend die Berge rot "erblühen" lässt; auch den Latemar, einen Berg, der nicht mit Seilbahn erstürmt werden kann. Für Schmidt ist er Gesprächspartner, "gerade weil die Gespräche, die wir führen, so irrwitzig oder irrsinnig sind, und man gerade an so skurril erscheinenden Situationen merkt, wie sehr es von unseren Konventionen abhängt, welche Wirklichkeit wir in uns bewirken."
Siegfried Schmidt nimmt keine Trennung zwischen seinen wissenschaftlichen und seinen künstlerischen Arbeiten vor. Für ihn bilden sie eine Einheit.
In "latemar nachlass 2" schreibt er:
auf seinen streifzügen durch das gebirge
wurde ihm zur gewissheit
dass man die welt nicht von außen betrachten kann
weniger gewiss war er hinsichtlich der frage
ob ihn das gebirge nicht auf seine eigene weise
ebenso betrachte
wie er das gebirge
zwischen latemar und ihm stand es unentschieden.
Insgesamt hat er drei Bücher geschrieben, die den Namen des Berges im Titel tragen ...
Diskurs des Radikalen Konstruktivismus
Siegfried J. Schmidts Name ist nach wie vor eng mit dem so genannten "Radikalen Konstruktivismus" verbunden. Diese erkenntnistheoretische Richtung geht davon aus, dass Menschen als bewusst agierende Wesen Wirklichkeit "konstruieren", diese aber nicht objektiv "entdecken" können.
Die Konstruktivisten kommen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und Traditionen. Schmidt entwickelte eine eigene Form des Konstruktivismus - den "soziokulturellen Konstruktivismus", der von einer sozialen und kulturellen Verknüpfung des autonomen Individuums mit der Gesellschaft ausgeht.
Zögernde Annäherung
Seinen ersten Zugang zum Konstruktivismus fand Schmidt über die Arbeiten des chilenischen Kognitionsbiologen Humberto Maturana, dessen Werk von einem Bekannten seiner Mutter ins Deutsche übertragen wurde. Nachdem er Maturana, Ernst von Glasersfeld und Heinz von Förster - die Säulenheiligen konstruktivistischen Denkens - 1977 bei einer Tagung in Madrid kennen gelernt hatte, fiel bei ihm der Groschen, wie er sagt. Und nach zähem Ringen mit dem Suhrkamp-Verlag ist es ihm schließlich gelungen, seine Aufsatzsammlungen zum von ihm so zusammengefassten "Radikalen Konstruktivismus" durchzubringen.
Unglaubliche 20.000 Exemplare wurden davon verkauft, dabei hat Schmidt selbst eine fundamentale Kritik an der von ihm mit auf den Schild gehobenen Denkrichtung: die mangelnde Selbstanwendung, weil - so Schmidt - der Konstruktivismus seine Fundierung aus den Erkenntnissen der Neurobiologie beziehe, ohne diese selbst in Frage zu stellen.
Er selbst wollte darauf mit einem Hypertext-Projekt antworten, das nach 800 Seiten den Computer zum Absturz gebracht hat. Daraufhin hat er das Ding weggeworfen und ist in die Wüste gefahren, um ohne Unterstützung aufzuschreiben, was er über den Konstruktivismus weiß. Der Verlag hat ihm dann nahe gelegt, das schmale Bändchen "Abschied vom Konstruktivismus" zu nennen.
Nicht statisch sein, immer weitermachen
Siegfried J. Schmidt hat den wissenschaftlichen Diskurs belebt, weiterentwickelt, revidiert und wieder Neues eingebracht. Dies zeigt sich auch an seiner akademischen Laufbahn: zunächst erfolgte die Promotion und Habilitation in Philosophie, dann wurde er Professor für Texttheorie an der Universität Bielefeld, hatte den Lehrstuhl für die Theorie der Literatur inne und weitete seine Forschungsinteressen auf Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Universität Münster aus.
Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Kunst
Siegfried J. Schmidt malt und publiziert experimentelle Literatur. Mit dem italienischen bildenden Künstler Mimmo Paladino etwa hat er mehrere Projekte durchgeführt. Neben Malerei und Dichtung interessierte ihn auch die Musik aktiv. Aber es reichte dann doch nicht für eine musikalische Karriere. Das Ende der "Musik" kam für den Deutschen schleichend und doch auch abrupt. Erst hatte er keine Zeit mehr, Gitarre zu üben, und dann setzte sich seine Tochter in das sündhaft teure Instrument.
Siegfried J. Schmidt in "latemar nachlass 2":
als er einmal
eher beiläufig
hinter sich blickte
bemerkte er
dass die welt sich
vor ihm zurückzog
er konnte nicht feststellen
in welche richtung.
Mehr zur Literatur von Siegfried J. Schmidt in Ö1 Programm
Mehr über den Konstruktivisten Heinz von Förster in oe1.ORF.at
Hör-Tipp
Menschenbilder, Sonntag, 7. Mai 2006, 14:05 Uhr
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Links
Hyperlexikon - Siegfried J. Schmidt
Uni Innsbruck - Siegfried J. Schmidt zum 60.
Siegfried J. Schmidt