Besuch beim "Sarkophag"

20 Jahre Tschernobyl

Vor 20 Jahren überschattete eine radioaktiv verseuchte Wolke Europa. Bis heute sind die Folgen in der Sperrzone um das Kraftwerk und in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zu spüren. Alleine in Tschernobyl selbst arbeiten 3.800 Menschen an der Stillegung.

Die alte Frau steht am Grenzbalken - so etwas wie ein Hoffnungsschimmer streicht über ihr Gesicht: es ist später Nachmittag, der Himmel wird langsam dunkel, die Vögel zwitschern sich schon in den Schlaf und so erscheinen wir mit unserem Mini-Bus wie eine Rettung.

Leben in der Sperrzone

Die ukrainischen Beamten am Wachthäuschen wollen sie nicht durchlassen. Schließlich liegt dahinter das Sperrgebiet, die 30-Kilometer-Zone rund um Tschernobyl, in die niemand einfahren und in der schon gar niemand wohnen sollte. Aber sie wohnt schon länger wieder dort, die alte Frau mit den wässrigen Augen, dem roten Kopftuch, den kaputten Zähnen, einem Drahtgeflecht um die Schulter und ein paar dürren Zweigen in der Hand.

"Hier gibt es keine Arbeit, ich bin alt und bekomme eine kleine Rente", sagt die Frau. Jetzt habe sie einen kleinen Bauernhof und ernte auch ein bisschen: "Ich pflanze mein eigenes Gemüse und Obst. Außer mir leben noch einige Leute hier, aber wir brauchen Strom, denn ohne Strom ist es sehr unangenehm. Eine Freundin ist sehr abhängig von mir, ich bereite ihr das Essen zu, und ich arbeite auch ein bisschen für sie - und Gas haben wir auch keines, das ist sehr schlecht."

Den Ukrainern, die uns in unserem Bus begleiten, kommt es zu gefährlich vor, die Frau einsteigen zu lassen, gegen den Willen der Wächter. Die Verhandlungen mit den Polizisten dauern so lange, dass es mittlerweile Dunkel geworden ist - und so bleibt die Alte für uns das einzig sichtbare Beispiel jener Rückwanderer, die trotz hoher Strahlung wieder in die Sperrzone zurückgekehrt sind.

Beim Unglücksreaktor

Wir selbst waren gerade beim Reaktor: "Sarkophag" nennen ihn die Ukrainer jetzt, weil das eigentliche, verstrahlte Gebäude etwa ein Jahr nach der Katastrophe mit einer Betonverschalung versehen worden ist: Ein Sarg, der über dem Komplex übergestülpt worden ist.

Die Arbeiter des Kernkraftwerks lachen, als wir sie mit Kamera und Mikrofon zu verfolgen versuchen, sprechen wollen sie nicht. Dafür ist ein eigener Fachmann abgestellt worden.

Igor Starovoitow schildert uns, dass 3.800 Menschen immer noch im Komplex beschäftigt sind. Schließlich sind die anderen Kraftwerksblöcke hier in Tschernobyl, die von der Katastrophe nicht direkt betroffen waren, noch bis zum Jahr 2000 voll gelaufen. Sie werden nun Schritt für Schritt eingemottet.

Arbeit unter komplizierten Bedingungen

An einigen Stellen im vierten Kraftwerksblock ist die Radioaktivität so hoch, dass die Arbeiter nur wenige Minuten arbeiten können - in anderen Bereichen sind sie länger beschäftigt. Erst messen sie die Radioaktivität, und danach beurteilen sie, wie lange sich die Spezialisten in diesem Bereich aufhalten können.

"Bevor sie hineingehen, um ihre Aufgabe zu erfüllen, haben die Arbeiter ein Spezialtraining. Und sie bekommen spezielle Werkzeuge. Damit trainieren sie, dann gehen sie hinein und arbeiten dort drei oder maximal fünf Minuten", erfahren wir von Igor Starovoitow.

Gearbeitet wird in Schutzkleidung, versteht sich: Gummistiefeln, Gummihandschuhe, oder noch ein besseres Material, Atemschutzmasken. Der bröckelnde Sarkophag muss stabilisiert werden - trotz einer dicken Betonschicht ist er an vielen Stellen undicht geworden, deshalb soll jetzt eben eine neue Konstruktion errichtet werden.

Fotografieren verboten

Unsere kleine Gruppe steigt zur Plattform hoch. Oben angekommen erweist sich die Plattform unmittelbar vor dem strahlenden Reaktor freilich als abgeschlossener, verglaster Raum, aus dem man einen guten Blick auf das Monster werfen kann: ein riesiger, fensterloser Betonkomplex, mit einem hohen, blechernen Schornstein - nur fotografieren darf man nicht.

Aber dafür kann man in ein aufgeschnittenes Modell des Kraftwerkes blicken - Julia, die Journalisten über die Folgen von Tschernobyl informiert, erläutert an Hand des Modells, wie groß der Schaden war, der damals auch im Inneren entstanden ist.

Nur ein Viertel aller Räumlichkeiten im Kraftwerk sind zugänglich. Innerhalb der ersten zehn Tage hat die Temperatur der geschmolzenen Brennstäbe mehrere tausend Grad erreicht.

"Heute liegen noch über 200 Tonnen radioaktives Material im Reaktor", sagt Julia, "aber das ist nur eine Schätzung, denn niemand kann genau sagen, wie viel es wirklich ist."

Jetzt wird so gut es geht, abgedichtet - in ein paar Jahren soll ein neuer Schutzkörper über den Sarkophag gestülpt werden.

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Hör-Tipp
Journal Panorama, 25. April 2006, 18:20 Uhr

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Buch-Tipp
Ulrike Röhr (Hg.), "Frauen aktiv gegen Atomenergie - Wenn aus Wut Visionen werden. 20 Jahre Tschernobyl", BoD Norderstedt Verlag, ISBN 3833445920

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