Besuch in Kiew und Umgebung
20 Jahre Tschernobyl
Vor 20 Jahren überschattete eine radioaktiv verseuchte Wolke Europa. Bis heute sind die Folgen in der Sperrzone um das Kraftwerk und in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zu spüren. Vor allem die Krebserkrankungen nehmen laufend zu.
8. April 2017, 21:58
In Kiew bläst Marschmusik aus dem Lautsprecher, fast fühlt man sich genau um 20 Jahre zurückversetzt, wären da nicht die tollen Boutiquen, die modernen Luxusautos und die Wohnblocks, die für die Opfer von Tschernobyl und die Flüchtlinge von Pripjat errichtet worden sind.
Besuch in der Rot-Kreuz-Station
Hier erinnern sich ehemalige Bewohner. Eine hat im Kulturpalast gearbeitet, die andere weiß von Blumen, im speziellen von Rosenzucht berichten, die die Stadt so freundlich gemacht haben.
Aber viele, die hier in der Rot-Kreuz-Station betreut werden, leiden an Spätfolgen der Strahlung. Ein etwa 50-jähriger Mann berichtet, er müsse regelmäßig zur Behandlung in die Klinik nach Deutschland. Dort bekommt er auch Medikamente für die Blutgefässe im Gehirn, auch der Blutkreislauf ist nicht in Ordnung, genauso wie Leber und Herz.
Viel schlimmer hat es seine Nachbarin erwischt. Ihr Mann hat als Physiker im Kraftwerk gearbeitet. 1994 stirbt er an einem Herzleiden Und auch der Sohn ist an den Spätfolgen von Tschernobyl gestorben. An Krebs. Er war 39 Jahre.
Mobile Klinik aus Österreich
Das österreichische Rote Kreuz hat eine mobile Klinik eingerichtet - mit Diagnosegeräten und Laptops werden vor allem in ländlichen Gebieten die Bewohner untersucht, die sonst einen zu weiten Weg zum Arzt hätten. Das kleine Haus, in dem die Untersuchungen durchgeführt werden, liegt am Rand des Ortes - ein leicht heruntergekommener Ziegelbau, die Eingangstür und die Fensterrahmen sind hellblau gestrichen.
Erhöhtes Risiko bei Schilddrüsenkrebs
Drinnen, in einer Art Warteraum, sitzen eng nebeneinander fünf Frauen - warm in Daunenjacken gehüllt, mit Pelzstiefeln und Kopftüchern.
Der zuständige Arzt schildert uns den bisherigen Fortgang der Untersuchungen: "Wir haben bisher 69 Personen untersucht, bei 31 haben wir Knoten in der Schilddrüse entdeckt, die müssen nun genauer untersucht werden. Es ist vor allem die Schilddrüse, die sich als besonders gefährdet herausstellt - nicht alle, die jetzt einen Knoten aufweisen, werden dann auch Krebs bekommen, aber dennoch besteht darin die größte Gefährdung."
Das bestätigt auch der Leiter der lokalen Rot-Kreuz-Stelle : Die Tschernobyl-Katastrophe unterscheidet sich von anderen Unglücksfällen dadurch, dass die Konsequenzen daraus Jahr für Jahr schlimmer werden, vor allem in der Altersgruppe, die damals noch nicht 18 Jahre alt war: "Vor fünf Jahren hat unser mobiles Diagnostiklabor nur zwei Fälle von Schilddrüsenkrebs gefunden - heuer waren es 68 Fälle."
Igor Nagorni, der uns als Fachmann und als Übersetzer begleitet, weiß noch mehr Zahlen: "Im vergangenen Jahr sind 90.000 Personen mit den mobilen Laboratorien überprüft worden - bei 10.000 hat man dabei Hautveränderungen festgestellt - 221 davon haben sich als Schilddrüsen-Krebs herausgestellt. Und seit 1997, als die Durchuntersuchungen begonnen haben - sind über 1.100 Krebsfälle diagnostiziert worden."
Katastrophales Krisenmanagement
Betroffen waren vorerst vor allem Menschen, die im unmittelbaren Einzugsbereich der Strahlenwolke gelebt haben. Die Informationspolitik hat damals völlig versagt. Nicht nur, dass die damalige Sowjetunion das Unglück heruntergespielt hat - es hat auch keine Erfahrungswerte gegeben, wie mit einer solchen Katastrophe umzugehen sei.
Während wir im Auto zum nächsten Ziel fahren, erinnert sich Igor Nagorni, dass erst am 28. April (also zwei Tage nach dem Unglück) die ersten Gerüchte aufgetaucht sind, dass beim Reaktor etwas passiert sein müsse. "Ein paar Leute, die etwas von Radioaktivität verstanden haben, sind mit ihren Kindern weggezogen. Darüber haben sich die Menschen Sorgen gemacht. Erst am 30. April ist in der kommunistischen Zeitung ein kleiner Artikel über das Unglück in Tschernobyl erschienen. Aber, so hieß es damals in der Zeitung, die Regierung und die Partei haben entsprechende Maßnahmen getroffen, dass alles unter Kontrolle sei."
Erst am 7. Mai 1986 haben medizinische Einrichtungen Hinweise erhalten, dass Jodtabletten verteilt werden sollen - das sei das beste Mittel, so ist den Betroffenen eingeredet worden, um sich nachträglich vor Radioaktivität zu schützen.
Mehr zum Lokalaugenschein in der Ukraine in Besuch beim "Sarkophag"
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Hör-Tipp
Journal Panorama, Dienstag, 25. April 2006, 18:25 Uhr
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