Komplexes Familienporträt
Der längste Tag des Jahres
Tanja Dückers wurde hier zu Lande durch den Roman "Spielzone" und den Erzählband "Café Brazil" bekannt, zwei Bücher, die in der Berliner Szene angesiedelt sind. In ihrem neuen Roman erzählt sie eine komplexe und spannende Familiengeschichte.
8. April 2017, 21:58
Am 21. Juni, also am längsten Tag des Jahres, stirbt das in vielerlei Hinsicht rätselhafte Oberhaupt der Familie Kadereit, der ehemalige Tierhandlungsbesitzer Paul. In fünf Kapiteln dringt Tanja Dückers behutsam, aber mit sezierender Genauigkeit in den Alltag und die Gedankenwelt seiner fünf erwachsenen Kinder ein.
Unterschiedliche Kinder
Bennie, der Ex-Journalist und Neo-Galerist, zeigt sich nicht wirklich erschüttert vom Ableben des stets distanzierten Vaters, weshalb sich die Autorin im ersten Kapitel auch ganz auf das Seelenleben seiner Freundin Nana konzentriert. Aus falsch verstandenem Mitleid versucht sie stillschweigend, ihm die gesamte Trauerarbeit abzunehmen.
Während sich Anna Sorgen macht, warum ihren beiden anarchischen Kindern Opas Tod nicht wirklich nahe geht, bewältigt Schauspieler David den Tod des Vaters durch einen spontanen Seitensprung beim Waldlauf mit einer karrierebewussten Schauspiel-Studentin, die ebenfalls kürzlich ihren Vater verloren hat.
Ganz anders Sylvia. Sie schwelgt in rosaroten Kindheitserinnerungen.
Seltsamer Vater
Der überraschende Tod des schrulligen alten Mannes reißt seine fünf Kinder mehr oder weniger heftig aus ihrem Alltag. Näher kommen sie sich dadurch nicht. Sie sind einander fremd geworden und waren sich dies, wie sie jetzt erkennen, schon in ihrer Kindheit.
Langsam setzt sich das Bild des Vaters zusammen, der in Rückblenden als seltsamer, starrsinniger und gänzlich in seiner eigenen Welt gefangener Sonderling beschrieben wird. Das einzige, wofür er sich wirklich begeistern konnte, waren die exotischen Tiere in seinen Terrarien, die er stundenlang mit stoischer Ruhe beobachtete und bewunderte. Er war ein Mann, der nie weg wollte, weil er täglich um drei seine Lieblings-Tiersendung im Fernsehen sehen musste, um danach Dinkelkuchen mit selbst hergestelltem Honig zu genießen.
Und dieser ewige Spruch: "Es ist unglaublich, wie diese Tiere unter den härtesten Bedingungen überleben können!", während er selber im Lehnstuhl saß und im Gecko-Führer blätterte! David sprach hinter vorgehaltener Hand von "The German Weltflucht", wenn Daddy mal wieder über Temperaturregler oder Waran-Wehwehchen monologisierte, während gerade Abrüstungsdebatten oder die großen Friedensdemonstrationen durch die Medien gingen.
Auseinander gedriftet
Einzig zu Thomas, dem jüngsten Familienmitglied, dem Dückers das ausführlichste Kapitel widmet, unterhielt der familiäre Fremdkörper so etwas wie eine Beziehung, obwohl auch diese nur einseitig verlief. Zunächst weiß niemand, wo sich Thomas überhaupt aufhält. Gefunden wird der Auswanderer schließlich in einer Wohnwagenkolonie in der Mojave-Wüste.
Vor allem an Hand der Ansichten dieses "Geflüchteten" zeigt die Autorin, wie diese Familie konstant auseinander gedriftet ist, wie sehr die Kinder um Aufmerksamkeit, Achtung und Liebe gekämpft und wie selten sie es geschafft haben, ein "Wir-Gefühl" zu empfinden. "Der längste Tage des Jahres" ist ein geschickt komponiertes, einfühlsames Familienporträt, das vor allem eines vermittelt: wie bei aller Kritik am Unvermögen des Vaters stets auch das eigene Verhalten überprüft werden muss.
Kann man jemals genug gefragt haben? Natürlich nicht. War er bislang ein ferner Satellit gewesen, eine Art Außenposten eines größeren Gefüges, hatte er jetzt das Gefühl, als sei dieses Zentralgestirn auf einmal verschwunden.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 14. April 2006, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 16. April 2006, 18:15 Uhr
Mehr dazu in Ö1 Programm
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Buch-Tipp
Tanja Dückers, "Der längste Tag des Jahres", Aufbau Verlag, ISBN 3351030681