Die Geschichte der kaukasischen Dichtkunst

Uraltes Kulturland Georgien

Das kleine Georgien, geografische Grenze zwischen Europa und Asien, ist einer der ältesten europäischen Kulturräume. Seit über 2000 Jahren gibt es die georgische Schrift, und Poeten werden seit jeher als besondere Künstler verehrt.

Eines der vielen Kaukasusvölker sind die Georgier. Und Georgisch ist nur eine der über 40 Sprachen, die am Kaukasus, auch "Berg der Sprache" und "Silberne Stirn der Erde" genannt, gesprochen wird. Sie hat sich bis heute so wenig verändert, dass ein durchschnittlich gebildeter Georgier ohne besondere Probleme die frühesten Zeugnisse der georgischen Literatur lesen könnte.

Willensstarke Nationalheilige

Das "Martyrium der heiligen Schuschanik" ist das älteste erhaltene Werk. Jakob Zurtaweli hat es im fünften Jahrhundert nach Christus verfasst. Was es noch heute lesenswert macht, ist die sehr modern anmutende Schilderung des Seelenzustandes der handelnden Personen, sowie das Beharren der Heldin auf ihrer geistigen Selbstständigkeit - gegen den Willen ihres Mannes. Und natürlich die vollendete Sprache.

Das "Goldene Zeitalter" der georgischen Literatur fällt mit dem Aufstieg Georgiens zur Großmacht zusammen. König Dawit, den man den Erbauer nennt, legte von 1085 bis 1125 den Grundstein dazu.

Königliche Liebschaften

Unter Königin Tamar (1178 - 1213) galt Georgien mit seiner Hauptstadt Tiflis als kulturelles Zentrum. Sie verstand es, Gelehrte und Weise ebenso an den Hof zu binden wie Maler, Musiker und Dichter. Unter ihrer Herrschaft entstand das Versepos "Der Recke im Tigerfell", ein Hohelied auf das wahre Rittertum, das sich durchaus mit den zur gleichen Zeit entstandenen französischen und deutschen Ritterepen messen kann.

Schota Rustaweli, der Verfasser des "Recken", soll der Geheimschreiber der Königin gewesen sein. Als er sich in sie verliebte, verließ er Tiflis und verbrachte seine letzten Jahre im Kreuzkloster von Jerusalem. Etwa zur selben Zeit und zum Vergnügen der Königin Tamar dürfte in Tiflis auch die endgültige Version der im ganzen orientalischen Raum verbreiteten Liebesgeschichte von Wis und Ramin aufgezeichnet worden sein.

Romantik in dunklen Zeiten

Die Mongolen beendeten dieses goldene Zeitalter, persische und osmanische Eroberer folgten, und schließlich ernannte sich das Zarenreich zur Schutzmacht. Die Dichtkunst lebte auch in den dunklen Zeiten weiter, wandte sich in der Romantik von den Vorbildern der persischen Literatur ab und wurde deutlich selbstständig, obwohl die Lektüre von La Fontaine, Cervantes und Balzac merklich inspirierte.

Geistige Unabhängigkeitskämpfe

Im Kampf um die Unabhängigkeit des Landes spielten Dichter, die die Eigenständigkeit der georgischen Sprache und Kultur hoch hielten, immer eine große Rolle. Einer von ihnen ist "Georgiens unsterbliche Nachtigall", Akaki Zereteli, dessen Erinnerungen an den Kampf gegen das Zarentum in deutscher Sprache vorliegen.

Michael Dshawachischwili, Verfasser der in Georgien berühmten Romane "Dshakchos Schützling" und "Die Bürde der Frau", wurde 1937 zu einem der ersten Opfer Stalinscher Säuberungen: Er wurde wegen "Vergiftung eines Wasserreservoires" verurteilt und hingerichtet. Unter der Folter soll er die Namen seiner Verbündeten verraten haben: Goethe, Schiller, Emile Zola. Gerüchteweise soll daraufhin landesweit nach diesen gefahndet worden sein.

Farbe bekennen

Das Leben als Schriftsteller in der Sowjetzeit war von Repressionen geprägt: Berufsverbot und Zensur, Verbannung und Emigration, Tod und Gewalt waren an der Tagesordnung.

"Die Ingenieure des neuen Lebens verdammten alles, was nicht in ihre Vorstellung von der klassenlosen Gesellschaft passte: alles Individuell-Persönliche, Traditionelle oder Seelisch-Geistige", erinnert sich der Autor Otar Tschcheidse. "Sogar Stil und Geschmack galten als Klassenphänomen und wurden daher folgerichtig bekämpft. Unliebsames wurde als antisowjetisch gebrandmarkt und hatte zu verschwinden."

Und doch ließ sich die georgische Literatur nicht ausrotten: Die junge und jüngste Generation georgischer Schriftsteller bekennt Farbe, und zwar zur Vielfalt!

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 6. April 2006, 11:40 Uhr

Buch-Tipps
Naira Gelaschwili (Hg.), "Georgische Erzählungen des 20. Jahrhunderts", Suhrkamp verlag, ISBN 351839522

Akaki Zereteli, "Aus meinem Leben", Manesse Verlag, ISBN 3717581678

"Die Geschichte der Liebe von Wis und Ramin", Unionsverlag, ISBN 3293202139

Links
Unionsverlag - Die Geschichte der Liebe von Wis und Ramin
Suhrkamp - Georgische Erzählungen des 20. Jahrhunderts
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