Das Spiel mit den Geschlechterrollen
Das ist doch die Höhe
Falsettisten imitierten zur Barockzeit im Vatikan Frauenstimmen, weil Frauen in der Kirche zu schweigen hatten. Später wurden sie von Kastraten abgelöst. Seit dem frühen Blues wird der Falsettgesang in vielen Stilrichtungen der populären Musik eingesetzt.
8. April 2017, 21:58
In der Popularmusik hört man das Singen mit der Kopfstimme in den verschiedensten Stilrichtungen. Da sind etwa die Falsettstimmen der großen Soul- Stylisten, zum Beispiel Curtis Mayfield. Marvin Gayes Falsettgesang ist vielleicht noch ein Spur nuancierter und kunstvoller als der von Mayfield. Und auch die im wahrsten Sinne des Wortes "Stimmung", die er vermittelt, ist viel ambivalenter. "Got to give it up" klingt auf den ersten Blick wie ein fröhlicher Partysong über das Tanzen und Frauen anbaggern. Aber der mehrdeutige Titel "Got to give it up" deutet wohl an, dass der Spaß bald ein Ende haben wird. Der Pastorensohn Gaye ist hin und hergerissen zwischen seinem Hedonismus und seinem religiösen Background. Der schwer kokainsüchtige Soulstar tanzt auf dem Vulkan.
Michael Jackson dürfte sich eingehend mit dem Vortragsstil von Marvin Gaye beschäftigt haben. Das hört man bereits bei der gesprochenen Einleitung zu "Don´t stop till you get enough".
Was passiert eigentlich, wenn jemand Falsett singt?
Es kommt beim Falsettgesang zu einer Art Kippen des Kehlkopfes. Dadurch schwingt das Stimmband nur an den Rändern, und die Stimme klingt zirka eine Oktave höher. Auf der ganzen Welt findet man in vielen Kulturkreisen eine Tradition dieser hohen Männerstimmen, aber auch der tiefen Frauenstimmen.
Diese Tatsache lässt wohl auf einen gewissen Gender-Aspekt schließen, es geht nicht zuletzt darum, in eine andere, sexuell weniger klar definierte Rolle zu schlüpfen, sich zu tarnen oder auch jemanden zu täuschen.
Ein Meister seines Fachs
Das Falsettsingen kann bis zu einem gewissen Grad erlernt werden, ist aber auch stark von anatomischen Gegebenheiten abhängig. Ein Meister des virtuosen Falsettgesanges ist Prince, und sein Meisterstück in dieser Richtung ist wohl nach wie vor "Kiss".
Der dreckige Falsettgesang von Prince hat nicht nur im Soul- und Funkbereich Nachahmer gefunden. Ich vermeine da auch auf dem letzten White Stripes Album seinen Einfluss zu hören. Jack White, der Sänger und Gitarrist dieses Duos, besitzt sicher nicht die Flexibilität der Stimme von Prince, aber diese narzisstische Selbstverliebtheit lässt mich doch sehr an den kleinen Mann aus Minneapolis denken.
Unfreiwillige Komik
Auch die Supermachos von den Rolling Stones ließen sich für kurze Zeit von der Discowelle der siebziger Jahre inspirieren, und Mick Jagger versuchte seine Stimme in Bee-Gees-Höhen zu schrauben. Ein Vorhaben, das wie fast immer, wenn sich die Stones zu sehr von ihrem ureigenen Stil entfernten, zum Scheitern verurteilt war. Trotzdem, diese wohl unfreiwillige Komik hat Charme.
Literarisches Denkmal
Einem anderen Sänger hat Peter Handke in seinem Roman "Der kurze Brief zum langen Abschnitt" ein kleines literarisches Denkmal gesetzt. Es handelt sich um den "Canned Heat"-Sänger Al Wilson:
Wilson war ein kleiner und dicklicher Junge. Er hatte Pickel, die man auch im Fernsehen deutlich sah, und trug eine Brille. Vor einigen Monaten war er vor seinem Haus im Laurel Canyon bei Los Angeles in seinem Schlafsack tot aufgefunden worden. Mit zarter hoher Stimme hatte er "On the road" gesungen und "Going up the Country". Anders als bei Jimi Hendrix oder Janis Joplin, die mir, wie auch sonst die Rockmusik, immer gleichgültiger wurden, verletzte mich sein Tod noch immer, und sein kurzes Leben, das ich dann zu verstehen glaubte, schmerzte mich oft in ruckhaften Halbschlafgedanken.
(aus "Der kurze Brief zum langen Abschied, 1972)