Eine Reverenz an Sam Beckett zum 100er

Warten auf K.

Heute lässt der sonst so verlässliche Literaturdozent Kastberger auf sich warten. Eine gute Gelegenheit, Unvollständiges zu Ende zu denken. Wir würden dann die Dialektik des Wartens zerpflücken. Eine Reverenz an Sam Beckett, der am 13. April 100 geworden wäre.

Mittwoch. 19:00 Uhr. Wie jede Woche: Unser Tag. Aber er kam nicht. Nun gut, dachte ich, er kann aufgehalten worden sein, an der Uni, im Literaturarchiv, in der Bibliothek - 100 Möglichkeiten, ich blieb also ruhig und wartete.

Vertrete ich mir eben ein wenig die Beine, dachte ich, gehe ein paar Meter vor und zurück und nütze die Zeit, um über Dinge nachzudenken, die mich schon lange beschäftigen. Die Wartezeit, davon ging ich aus, der Verlässlichkeit meines Freundes, des loyalen Literaturdozenten Kastberger, gewiss, die sogenannte Wartezeit wird kurz sein, um nicht zu sagen, kürzest. Jeden Moment kann er aus dem D-Wagen springen und mich mit einem charmanten Schmunzeln (Hallo, Alter!) begrüßen. So gesehen, eine günstige Gelegenheit, unfertig Gedachtes jetzt, genau jetzt, auf den Punkt zu bringen.

Kastberger wird gleich kommen, ich kann inzwischen die Zeit nützen, um endlich in diesem oder jenem zu einem Ende zu kommen. Nütze die Zeit, Weichinger, mach voran, das ist eine Chance. So in etwa, sprach ich zu mir, während ich mich krampfhaft daran zu erinnern versuchte, was an Unvollständigem in meinem gequälten Kopf zu Ende zu bringen wäre. Da gibt es hundert Dinge, versuchte ich mich im etwas peinlichen, allerdings leise gehaltenem Selbstgespräch, was heißt hundert, tausend, Millionen, Trillionen, Billionen - nachdem ich mich kurz an den Steigerungsstufen begeistert hatte, musste ich mir eingestehen, dass ich nur um den heißen Brei herum redete. Genauer gesagt, ich suchte einen Ausweg aus dem Warteschlamassel.

"Und nun tust du so, als ob du denkst, während du doch in Wahrheit keinen einzigen brauchbaren Gedanken gedacht hast", dachte ich ernüchtert. Ich werde Kastberger, dem säumigen Literaturdozenten, erzählen, was mir alles durch den Kopf gegangen ist, während ich auf ihn gewartet habe und dabei heftig übertreiben, frohlockte ich. Ich werde die Weltgeschichte aufmarschieren lassen, Prinz Eugen, Napoleon, Danton, und er wird ganz eifersüchtig werden und nächsten Mittwoch seinerseits eine halbe Stunde früher beim Treffpunkt erscheinen, nur um dann Marie Antoinette, Katharina die Große und die Maultasch aufmarschieren lassen zu können.

Wir werden die Dialektik des Wartens, diese Grauzone des Lebens zwischen Erwartung, Hoffnung und bitterer Enttäuschung, in der sich die meiste Zeit das Leben der Meisten abspielt, zerpflücken, buchstäblich zerpflücken. Bei unserer Runde entlang des Schreiberbaches wird die x-te These auf die y-te Antithese von der z-ten Synthese abgelöst werden, ausgelöst durch die schlichte, aber gleichwohl fundamentale Erfahrung des Wartens. So dachte ich, schon ein bisschen fröstelnd, während ich auf Kastberger, den sonst so verlässlichen doch diesmal säumigen Literaturdozenten, wartete.

Ich wartete. Im Rhythmus von zehn Minuten, manchmal eine halbe früher, dann wieder eine halbe Minute später, trudelten D-Wagen in Nussdorf ein, ich registrierte diese sanften Abweichungen genau, so fad war mir, während ich wartete. Ich wartete und war allein. Kaum Heurigenbesucher, fast keine Jogger, ein paar Hundehalter, niemand nahm mich war, so schien es mir, während ich in klammer Haltung, Nacken gesenkt, Hände in den Manteltaschen vergraben, die Zehen steif werdend im schlechten Schuhwerk und den stets löchrigen Strümpfen auf Kastberger, den abwesenden Literaturdozenten, wartete.

Man kann ganz schön viel Tun, während man wartet, dachte ich. Man kann seinen Gedanken nachhängen, Menschen beobachten, in sein Innerstes hören. Man könnte ein Buch lesen, einen Entschluss fassen, Kastberger am Handy anrufen. Nichts davon tat ich. Wen sollte ich beobachten, ich sah nur Menschen, die mit eingezogenem Kopf an mir vorbei hasteten. Wie sollte ich in mein Innerstes hören, ich fror, das sagte ich schon. Lesen? Unmöglich, ich hatte nichts mit, keinen Bernhard, keinen Beckett, keinen Brecht. Für einen Entschluss mangelte es mir an Entschlossenheit. Jemanden anrufen, für den ich mir die Hax’n in den Bauch stehe, widerstrebt mir grundsätzlich. Blieb nur eine Möglichkeit, den Gedanken nachzuhängen, und gerade in diesem Punkt hatte ich nicht meinen besten Tag erwischt.

Warten ist eine zähe Sache, gestand ich mir ein. Gibt es einen Menschen, der eine Verabredung, die mit einer Wartezeit beginnt, gelassen erträgt, der einem Termin beim Zahnarzt im Wartezimmer der Ordination entspannt entgegen sieht? Und wie ist es mit diesen beiden Tramps in dem Stück, das zur Gänze vom Warten handelt? Werden die von ihrem Warten auf Godot nicht förmlich zerrissen? Wer zu lange wartet, erstarrt in Apathie, in Aphasie, in Gleichgültigkeit und Langeweile, vegetiert nur noch, das schon, doch sonst? Warten, das ist doch das Leben am Leben vorbei gelebt. Warten ist wie eine Folter.

Die Zeit verging. Irgendwann fiel mir auf, dass nun schon länger kein D-Wagen mehr nach Nussdorf gekommen war. Mitternacht, oder noch später: "Komm, geh ... Ich kann nicht ... Warum nicht? ... Ich warte auf K. ... Ach ja."
Ich bewegte mich nicht von der Stelle.

Der Beitrag ist eine Reverenz an den großen Sam Beckett, der am 13. April 100 Jahre alt geworden wäre.

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