Leben zwischen Tradition und Moderne
Die verlorenen Söhne
Die umstrittene Soziologin Necla Kelek plädiert für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes. Sie sieht es als Aufgabe der deutschen Gesellschaft, jungen Türken Selbstbestimmtheit abseits der elterlichen Tradition zu vermitteln.
8. April 2017, 21:58
Mit ihrem ersten Buch "Die fremde Braut" entfachte die promovierte Soziologin Necla Kelek eine heftige Debatte über Zwangsverheiratung und die gescheiterte Integration der Türken in Deutschland. MigrationsforscherInnen warfen der Autorin unseriöse Arbeitsweise und Erfolgsorientiertheit vor. Die ins Kreuzfeuer der Kritik geratene Autorin legt nun ihr neues Buch vor, in dem sie sich der anderen Hälfte der türkisch-muslimischen Gesellschaft zuwendet: den Männern.
Verlorene Parallelgesellschaft?
In "Die verlorenen Söhne. Ein Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes" beschreibt sie die Situation junger Deutschtürken. Warum, fragt sie, sind so viele muslimische und türkische Jungen Schulversager? Warum sitzen so viele Muslime in deutschen Gefängnissen? Sind nur soziale Benachteiligung und mangelnde Bildungschancen die Ursache dafür? Oder auch die Erziehung und die archaischen Stammeskulturen einer sich ausbreitenden Parallelgesellschaft?
Ich möchte mit diesem Buch Hintergründe darüber liefern, in welcher Ordnungsmacht die Menschen aufwachsen, was für eine Art von Erziehungskonzept in den Familien vorherrscht, und wie dieses Konzept gestaltet wird. Mich interessiert, woher die Eltern dieses Selbstverständnis nehmen, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie sagen, die Kinder sind unser Besitz. Wir erziehen sie traditionell und unsere Tradition heißt Gehorsam und Respekt.
Aufwertung durch Religion
Diesem Familiengesetz müssen sich nicht nur die Töchter unterwerfen, sondern auch die Söhne: Sie sollen eines Tages in die Fußstapfen ihres Vaters treten. Doch die Arbeitslosigkeit vieler Väter hat die traditionelle Familienordnung ins Wanken gebracht. Die Folge, so schreibt Necla Kelek in ihrem Buch, sei eine "kollektive Selbstvergewisserung" durch eine Rückbesinnung auf den Islam.
Viele Familien, die sich in Deutschland nicht integrieren konnten, weil sie nicht das nötige Bildungskapital mitgebracht haben, sondern bloß ihre Arbeitskraft, haben den Anschluss an die Moderne nicht geschafft. Sie versuchen dennoch, sich eine Welt aufzubauen, in der sie sie selbst sein können. Eine Möglichkeit ist, sich dem Islam verstärkt zu widmen, um sagen zu können: Zwar sind wir nicht in der Moderne, aber auf dem Weg zu Gott. Das gibt ihnen Kraft. Und das gibt ihnen eine Aufwertung.
Zwischen "Daseinsschuld" und Selbstbestimmtheit
Anhand der Lebensgeschichten muslimischer Männer - vom Mörder bis zum Vorbeter einer Moschee - veranschaulicht Necla Kelek in ihrem Buch die Sozialisation türkischer Jungen. Sie beschreibt den Initiationsritus der "Beschneidungshochzeit" ebenso wie die "Daseinsschuld", durch welche die Jungen ihren Eltern gegenüber zu lebenslangem Dank verpflichtet sind.
Brechen sie aus der Tradition aus, leben sie mit unerträglichen Schuldgefühlen, denn in den Moscheen wird gepredigt, dass, wer seine Eltern verrät, großes Unheil über sie und sich selbst bringen wird. Necla Kelek versucht, bei diesem Schuldgefühl anzusetzen und den jungen Männern Selbstbestimmtheit zu vermitteln.
Perpetuiertes soziales Elend
Meine ganze Arbeit beruht auf der These, dass jeder Mensch, der sich auf den Weg in die Moderne macht, auch seine eigene Geschichte leben wird. Und ich muss leider das Resümee ziehen, dass das nicht von alleine geschieht. Mit einem schlechten Abgangszeugnis haben junge Türken überhaupt keine andere Chance, als eine Importbraut aus der Türkei zu heiraten und wieder ihr soziales Elend neu zu produzieren. Die deutsche Gesellschaft ist jetzt gefordert, Angebote zu machen. Sonst verlieren wir diese Kinder für immer.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Necla Kelek, "Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes", Kiepenheuer & Witsch, ISBN 3462036866
Links
Die Zeit - Die Kelek-Debatte im Zeitarchiv
Kiepenheuer und Witsch - Die verlorenen Söhne