Erst Fließbandarbeiterinnen - dann Freiwild

Ciudad Juárez: Stadt der Frauenmorde

In der Grenzstadt im Norden Mexikos wurden seit zwölf Jahren mehr als 400 Frauen Opfer von Sexualmördern, 600 Frauen werden vermisst. Amnesty International wirft der Polizei Menschenrechtsverletzungen und der Politik Untätigkeit vor.

Alle zehn bis 14 Tage wird in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez eine Frau ermordet. Das ungebremste, unbegreifliche Abschlachten von Frauen hat hier schon einen neuen Begriff hervorgebracht: Feminizid - in Anlehnung an den Begriff Genozid: die systematische Vernichtung des weiblichen Geschlechts.

Wie konnte es dazu kommen? Wieso greifen Regierung und Polizei nicht rigoros durch? Was ist mit dieser Stadt los, die offenbar nicht fähig ist, ihre Bürgerinnen zu schützen?

Unfassbare Zustände

In ihrem Kern ist Ciudad Juárez, die Wüstenstadt am großen Rio Bravo, eine jener modernen Städte Lateinamerikas, die den amerikanischen Lebensstil mit mexikanischer Tequila-Gemütlichkeit kombiniert. Je näher man allerdings in den Westteil der Stadt gelangt, umso weniger traut man seinen Augen: In einer Sandwüste zieht sich am Rande der grauen Berghänge ein Meer aus ebenso grauen Hütten hoch - gefertigt aus Milchtüten, Sperrholz oder Plastik: die Wohnstätten der armen Bevölkerung, die etwa die Hälfte der insgesamt 1,5 Millionen Einwohner ausmacht - viele davon Arbeiterinnen und Arbeiter der so genannten Maquilas - der internationalen Fertigungsfabriken.

In diesem Slumgebiet gibt es keine Geschäfte, keine Apotheken, keine Ärzte. Hier passieren die meisten Gewalttaten. Sie reichen von extremer häuslicher Gewalt über gezielten Organhandel, satanische Rituale und Gewaltpornos bis hin zur organisierten Kriminalität und zu bestialischen Frauenmorden. So verschwinden Frauen vor, während oder nach ihrer Arbeit. Tage, Monate oder gar Jahre später tauchen ihre Leichen an abgelegenen Orten in der Wüste wieder auf - nackt, zerstückelt oder verbrannt, allein oder zu mehreren, mit Spuren grausamer Folter und sexueller Gewalt. Ursachen: ungeklärt, Täter: nicht auffindbar. Anzeigen: eingestellt.

Die Macht der Maquilas

Seit 30 Jahren haben sich in in der Wüstenstadt und entlang der Grenze zu den USA die internationalen Maquilas angesiedelt - ein Industriezweig, bei dem im Ausland produzierte Güter in das Billiglohnland Mexiko gebracht werden, um dort von unqualifizierten Arbeitskräften lediglich zusammengesetzt zu werden. Danach werden die fertigen Waren wieder ausgeführt und anderswo teuer verkauft.

Die mexikanische Regierung bietet den Firmen nicht nur ihr Menschenmaterial zu Schleuderpreisen, sondern auch noch den Grund und Boden miet- und steuerfrei an. Die Konzerne stellen vorwiegend junge Frauen um etwa drei Euro pro Tag ein, weil sie weder über ihre Arbeitsrechte Bescheid wissen, noch diese einfordern. Männer ab 30 werden nicht mehr beschäftigt, nur Frauen dürfen weiterarbeiten. Viele Gewalttaten in dieser Gegend liegen in diesem Umstand begründet, denn wer keine Arbeit findet, beginnt zu stehlen, zu dealen oder zu trinken. Die Folge: Männer misshandeln ihre Frauen und Kinder. Und in diesem Klima alltäglicher Gewalt kann sich auch eine bestimmte Spielform des Machismus aus besseren Schichten ungestraft ausbreiten.

Frauen als "Wegwerffleisch"

"Je mehr die Frauen bei ihrer Arbeit ausgebeutet werden, desto weniger werden sie überhaupt als Menschen mit Rechten angesehen, z. B. mit dem Recht auf Schutz von Leib und Leben. Sie werden zu Wesen zweiter Klasse, sind buchstäblich 'Wegwerf-Fleisch' - austauschbare Nummern im Getriebe", macht die Schriftstellerin Francesca Gargallo in erster Linie die Maquilas dafür verantwortlich, dass in Ciudad Juárez ein Menschenleben so wenig bedeutet.

Neben der Sklavenarbeit greifen skrupellose Unternehmer aber auch zu anderen Praktiken: So werden bei den Bewerbungsverfahren Fotos von Frauen gemacht - und zwar keine Passfotos, sondern Ganzkörper-Aufnahmen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Täter sich auf der Grundlage dieser Fotos ihr nächstes Opfer aussuchen, möglicherweise sogar auf Bestellung ...

Wer sind die Täter?

Mehrere Berichte aus der Bevölkerung und von Vertretern der Zivilorganisationen bestätigen, dass Frauen in gutem Glauben z. B. auf Befehl einer Autoritätsperson in Autos verfrachtet werden. Die Fahrzeuge und die Täter - so wird erzählt - ähneln sehr jenen der städtischen Polizei. Dort scheint jedenfalls ein absolutes Desinteresse zu bestehen, die Täter ausfindig zu machen, geschweige den Armen im Allgemeinen und den Frauen im Besonderen Rechte zu verschaffen Die Stadtverwaltung erhält keine Steuern und kann daher auch nicht in das Wohlergehen ihrer Bürger investieren, wird argumentiert.

Die Regierung wiederum streitet die Existenz serieller Morde ab und stellt sie als private Taten häuslicher Gewalt hin. Präsident Fox hat vor drei Jahren eine nationale Sonderbeauftragte mit der Aufklärung der Morde beauftragt. Ihr fehlte allerdings die Befugnis, in die Akten einzusehen. Säumige Polizeibeamte wurden jedenfalls bis dato nicht bestraft. Derzeit ist die Stelle einer Sonderbeauftragten wieder vakant, und es ist unklar, ob sie überhaupt weiter bestehen bleibt.

Den lokalen Machthabern bietet die Untätigkeit der Regierung daher weiterhin ein breites Feld, um weitere Morde nicht nur geschehen zu lassen, sondern sie zu decken oder sogar mit zu verüben. Sie können sich in aller Ruhe damit befassen, ihre Widersacher auszuschalten, unter ihnen Journalisten, Mütter und Väter der Opfer, Menschenrechts-Aktivistinnen und deren Anwälte.

Es ist nie zu spät

Inzwischen wagt es niemand mehr, Aktionen zu organisieren. Die mächtigen Familien der Region schalten und walten im Einklang mit der örtlichen Politik, wie sie wollen, ebenso tun das die Bosse der Maquilas. Das eigentliche Problem bleibt: die Straflosigkeit der Täter. Fazit: Die Morde nehmen weiter zu. Sie werden nun schon in der ganzen Nordhälfte, aber auch im Zentrum der mexikanischen Republik begangen. Noch nie war es in Mexiko so leicht wie jetzt, eine Frau umzubringen.

Was aber erwartet uns in einer Welt, in der die Globalisierung den Turbokapitalismus begünstigt und rechtsschwache Zonen schafft, in denen ein Frauenleben nichts mehr gilt? Nur ein Mehr an Demokratie und eine wachsame internationale Öffentlichkeit können dieser Entwicklung noch Einhalt gebieten - zu spät ist es dazu nie.

Service

Journal-Panorama, Donnerstag, 28. Dezember 2006, 18:25 Uhr

Wikipedia - Ciudad Juárez
Amnesty International Österreich