Ein Seelenwanderer
Der Poet der Psyche
Im Jahr 1900 publizierte Sigmund Freud die "Traumdeutung". Das Jahrhundertbuch, gespickt mit literarischen Stoffen von Ödipus bis Hamlet, erweist sich als wahre Fundgrube für Literaturwissenschaftler, Linguisten und Semiotiker.
8. April 2017, 21:58
Warum schläft das Seelenleben nicht ein? Wahrscheinlich, weil etwas der Seele keine Ruhe lässt. Es wirken Reize auf sie ein und sie muss darauf reagieren. Der Traum ist also die Art, wie die Seele auf die im Schlafzustand einwirkenden Reize reagiert. Sigmund Freud
Im Jahr 1899 publizierte Freud die "Traumdeutung": Es war die erste systematisch wissenschaftliche Theorie über das Unbewusste in der menschlichen Seele. Freud selbst bezeichnete das 600 Seiten umfassende Werk als Via regia zur Kenntnis des Unbewussten. Auf diesem Königsweg ins dunkle Reich der Psyche stellte der Verehrer Shakespeares auch sein Talent als Schriftsteller unter Beweis.
Ein literarisch begabter Wissenschaftler
Der Autor Freud macht seinen Lesern deutlich, dass Träume psychologisch sinnvolle Phänomene sind und gedeutet werden können: Als verdrängte, zumeist sexuell aufgeladene Triebwünsche, die vornehmlich aus der Kindheit stammen.
Wer Sigmund Freuds "Traumdeutung" als literarisches Werk liest, gerät schnell in den Verdacht ein Gegner der Psychoanalyse zu sein. Das Lob für den Literaten inkludierte lange Zeit eine unterschwellige Kritik am Wissenschaftler Freud.
War die Traumdeutung nun das Werk eines Wissenschaftlers oder Literaten? Heute lässt sich darauf salomonisch antworten: Die Traumdeutung war das Opus Magnum eines Wissenschaftlers, der schreiben konnte, wie ein Schriftsteller.
Freud und die Klassiker
Freud ist ein Meister der Metapher, schwärmt die Salzburger Germanistin Konstanze Fliedl; der Vergleich des Traumes mit einem Netz oder einem Myzel, einem Pilzgeflecht, sei eine ganz moderne Metaphorik: "Das Myzel hat eine Struktur, die nicht logisch ist, sondern deren Funktionsweise in den Verzweigungen besteht."
Der Autor der "Traumdeutung" ist ein literaturgeschichtlich versierter Renegat der Naturwissenschaften. Ein Homme de lettre, ausgestattet mit einem phänomenalen Gedächtnis. Bevor der Neurologe Freud die Nervenzellen von Fischen seziert, hat der Maturant die Anfangsverse des sophokleischen Ödipus Rex auswendig gelernt, jener antiken Tragödie, die in der Traumdeutung als literarische Blaupause für die libidinöse Wunscherfüllungstheorie dienen sollte.
Sophokles und Shakespeare
Die Klassiker in seiner Bibliothek werden zu Freuds Gewährsmännern. Die literarischen Stoffe fungieren als Beweisstücke für die psychologische Traumtheorie.
Die zwei berühmtesten Kronzeugen in der Traumdeutung sind Sophokles und Shakespeare. An Ödipus und Hamlet veranschaulicht Sigmund Freud die Kardinalthese in der Traumdeutung: Der Traum ist ein erfüllter verdrängter Wunsch aus der Kindheit.
Dolmetscher zwischen zwei Sprachen
Die "Traumdeutung" erweist sich als wahre Fundgrube für Literaturwissenschaftler, Linguisten, und Semiotiker. Das Erzählen und Notieren eigener und fremder Träume, die Technik des freien Assoziierens, das Aufspüren latenter Traumgedanken in manifesten Trauminhalten, die Beschreibung von Verdrängungs- und Verdichtungsprozessen bei der Traumarbeit, und die Deutung der Traumsymbole.
Alle diese Versatzstücke, die Freud im Stile des Romanciers und Novellisten zusammenwebt, zeichnen die Traumdeutung als narratives Kunst- und hermeneutisches Meisterwerk aus.
Freud übersetzt die manifesten, erinnerten Traumerzählungen in das Original der latenten, verdrängten Traumgedanken zurück. Damit wird er zum Dolmetscher zwischen zwei Sprachen. Als Archäologe der Psyche schaufelt er die Syntax des verschütt gegangenen anderen Sprechens, das sich im Traum äußert, wieder frei. Das Jahrhundertbuch setzt so neue Maßstäbe für die Interpretation literarischer Texte.
Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 6. März 2006, 19:05 Uhr
Download-Tipp
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Links
Sigmund Freud Museum Wien
Freud-Institut
Wiener Psychoanalytische Vereinigung