Auf der Suche nach dem verschwundenen Vater

Bis ich dich finde

In seinem neuen Buch gibt John Irving viel von sich selbst preis. Immer wieder fragt man sich, wie viel von der Handlung nun tatsächlich autobiografisch ist. Irvings wunderbar skurriler Humor trägt außerdem noch viel zum Lesevergnügen bei.

John Irving, der Großmeister der US-amerikanischen Unterhaltungsliteratur, schickt seinen Helden auf Reisen und packt eine ordentliche Ladung Autobiografisches in den Rucksack. Der weltberühmte Autor und Schöpfer von literarischen Meilensteinen wie "Garp und wie er die Welt sah", "Das Hotel New Hampshire" oder "Gottes Werk und Teufels Beitrag" arbeitet in seinem elften Roman seinen Lebensweg auf, dessen Beginn durch zwei schmerzvolle Erfahrungen geprägt war: sexueller Missbrauch und die völlige Abwesenheit des Vaters.

Laut seiner Mutter war Jack Burns bereits ein Schauspieler, bevor er Schauspieler wurde, doch die lebhaftesten Erinnerungen an seine Kindheit waren die an jene Augenblicke, in denen er den Drang verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten. Das waren die Augenblicke, in denen er nicht spielte.

Eintauchen in Subkulturen

Die Reise beginnt Ende der 60er Jahre im Norden Europas. Der vierjährige Jack und seine Mutter Alice, die Tätowiererin, klappern einen Nordseehafen nach dem anderen ab, auf der Jagd nach Jacks Vater William, einem "tintensüchtigen" Tattoo-Maniac, unverbesserlichen Frauenhelden und begnadeten Organisten. Das seltsame Paar taucht ein in die verschiedensten Subkulturen und begegnet vermeintlichen Mittelsleuten, doch der flüchtige Erzeuger, dessen Ex-Geliebte ihm wenigstens einmal seinen Sohn zeigen möchte, bleibt ein Phänomen.

"William weiß ganz sicher, wie sein Sohn aussieht", erwiderte Femke. Es war die Art von Information (oder Fehlinformation), die ein Leben verändern kann. Jedenfalls veränderte sie Jacks Leben. Von diesem Tage an versuchte er sich vorzustellen, dass sein Vater ihn heimlich beobachtete.

Der Bub im Mädcheninternat

Nach ihrer Rückkehr aus Europa steckt Alice ihren Sohn in der Überzeugung, dass ihm dort nichts Böses widerfahren könne, in ein Mädcheninternat. Doch weit gefehlt: Jack wird Opfer zahlreicher Übergriffe gewalttätiger Pubertierender und schließlich sexuellen Missbrauchs. Später als mittlerweile Oscar-gekrönter Transvestiten-Darsteller in Hollywood und Frauenschwarm mit Hang zu älteren Damen macht er sich noch einmal auf den Weg nach Europa, um mit seinem Vater auch sich selbst zu finden.

Es lag daran, dass er nicht schauspielerte. Es war, als hätte er es verlernt. Er kannte zwar noch seinen Text, agierte aber völlig untypisch. Jack hatte mit Schauspielern aufgehört. Er war einfach nur Jack Burns - endlich der wirkliche Jack Burns.

Verdrängte Wahrheiten

Einen Großteil der Spannung bezieht der über 1000 Seiten lange Roman zweifellos aus der Frage, wie viel der Handlung nun tatsächlich autobiografisch ist. Jack Burns klingt nicht zufällig wie John Blunt, der Taufname Irvings. In einem Interview bekannte der Schriftsteller, dass er als 11-Jähriger tatsächlich von einer Frau sexuell missbraucht worden ist. Während der Arbeit am Roman erfuhr Irving schließlich auch von nicht weniger als vier Halbgeschwistern und von seinem bereits verstorbenen Vater. Doch obwohl der Ex-Ringer erstaunlich viel unangenehme und sicherlich lange Zeit verdrängte Wahrheiten aus dem eigenen Leben einfließen lässt, bleibt es trotzdem ein "typischer" Irving-Roman mit zahllosen exzentrischen Figuren, exotischen Schauplätzen und wunderbar skurrilem Humor.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 10. Februar 2006, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 12. Februar 2006, 18:15 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Radiogeschichten, Mittwoch, 22. Februar 2006, 11:40 Uhr

Im Gespräch, Donnerstag, 23. Februar 2006, 21:01 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendungen "Ex libris" und "Im Gespräch" nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
John Irving, "Bis ich dich finde", aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl, Diogenes Verlag, ISBN 3257065221

Veranstaltungs-Tipp
"Zeitgenossen im Gespräch", Sonntag, 19. Februar 2006, Burgtheater, John Irving präsentiert sein neues Buch,
Ö1 Club-Mitglieder erhalten ermäßigten Eintritt (10 Prozent).

Link
Burgtheater